Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
müssen, um
sofort tot zu sein. Er hatte sich noch tagelang gequält, bevor
er starb. Dass sich beim Reinigen der Waffe ein
Schuss gelöst hatte, wie der Untersuchungsbericht
später behauptete, war Unsinn. Aber Selbstmorde von Offizieren
nahmen sich in Regimentsannalen verheerend aus.
Nein, überlegte
er weiter, während er die Piazza überquerte und den
Schlüssel aus seiner Uniformjacke zog, sich in die
Schläfe zu feuern kam nicht in Frage. Auch nicht, sich
aufzuhängen und darauf zu warten, bis einen der Strick langsam
erwürgte. Man erstickte nicht friedlich, sondern versuchte
reflexartig und völlig aussichtslos, sich die Schlinge vom
Hals zu fummeln — ein äußerst unangenehmer Tod.
Blieb also nur der Sprung von einem möglichst hohen
Gebäude auf einen möglichst harten Untergrund. Vom
Campanile auf die Piazza.
Er hatte einfach Pech
gehabt. Um Mitternacht hatte er mit sagenhaften dreihundert im Plus
gelegen, doch zwei Stunden später hatten sich Verluste in der
gleichen Höhe angehäuft. Er hatte wieder einen
Schuldschein ausgeschrieben, nur diesmal würde er ihn nicht
einlösen können, denn die Regimentskasse war praktisch
leer. Die in der nächsten Woche stattfindende
halbjährliche Revision würde ihm endgültig das
Genick brechen. Es gab keinen anderen Ausweg.
Jetzt war es kurz nach
halb acht, und außer ein paar Einheimischen, die die
Abfälle der letzten Nacht zusammenfegten, war die Piazza San
Marco menschenleer. Er schloss die Eichentür des Campanile auf
und ließ sie hinter sich zufallen. Dann stieg er, die
Blendlaterne in der rechten Hand und die linke am Geländer,
langsam nach oben. Auf der Aussichtsplattform angekommen,
würde er sich eine Zigarette anzünden und auf
die steinerne Brüstung steigen. Ein kurzer Flug wie Ikarus und
schließlich, nach ein paar Sekunden, der Aufprall. Dass er
unten keinen erfreulichen Anblick bieten würde, war ihm klar.
Menschliche Körper, aus großer Höhe auf steinernes
Pflaster herabfallend, zerplatzten wie reife Melonen.
Während er
mechanisch einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen setzte,
stellte er fest, dass ihm der Aufstieg erstaunlich leicht fiel.
Kein Schwitzen und Gekeuche, sondern ein müheloses, wie von
unsichtbaren Flügeln getragenes Emporsteigen, das ihn in eine
leichte und völlig unangebrachte Hochstimmung versetzte.
Hinter dem siebenten, dem letzten der kleinen Aussichtsfenster,
meldete sich sein Magen — mit einem Gefühl, als
hätte er tagelang nichts gegessen. Oberst Reski nahm, so als
würde ihn oben ein kräftiger Imbiss erwarten, zwei Stufen
auf einmal, und plötzlich hatte er eine
Vision.
Sie war so klar und
deutlich, dass er stehenblieb und den Mund aufsperrte. Oberst Reski
sah einen Teller mit einer großzügigen Portion
Tafelspitz, eingebettet in einen Kranz aus Sahnemeerrettich. Auf
einem zweiten Teller häufte sich eine Portion
Pressknödel. Da dies jedoch keine Vision war, die er im Moment
brauchen konnte, klappte er den Mund zu und setzte sich wieder in
Bewegung.
Als er die Plattform
betrat, war es immer noch stockdunkel. Nur im Osten war jetzt ein
kleiner Lichtpunkt zu erkennen, der sich erstaunlich schnell
vergrößerte und den Horizont mit rötlichem Glanz
erfüllte, sodass der Oberst unwillkürlich an ein rosa
Spanferkel denken musste. Er atmete tief durch und stellte fest,
dass sich das Hungergefühl in seinem Magen verstärkt
hatte. Und dass nichts dagegen sprach, das Unternehmen um einen Tag
zu verschieben. Das Quadri auf der anderen Seite der Piazza
öffnete in einer guten halben Stunde. Er würde mit einer
kräftigen Consommé beginnen, anschließend ein
nahrhaftes Omelett zu sich nehmen und das Frühstück mit
etwas Süßem, vielleicht etwas Kirschgefülltem,
abschließen. Selbstverständlich würde er
anschreiben lassen.
Oberst Reski wollte
sich gerade von der Brüstung abwenden, um wieder zur Treppe zu
gehen, als er plötzlich spürte, wie sein Fuß etwas
Weiches berührte. Er bückte sich - und hätte vor
lauter Schreck fast die Blendlaterne fallen gelassen. Es war eine
junge Frau, die vor ihm auf dem Ziegelboden der Plattform lag, und
sie war eindeutig tot. Ihre Augen starrten ins Leere, selbst im
fahlen Schein der Laterne waren die Würgemale auf ihrem Hals
deutlich zu erkennen. Sie lag auf dem Rücken, und er musste
sie nicht umdrehen, um zu wissen, dass ihre Hände gefesselt
waren. Auch ihre Beine waren an den Knöcheln zusammengebunden.
Die junge Frau hatte einen Schuh verloren, der nackte
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