Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
wie jemand,
der Liebeskummer hat.»
Bossi streckte das
linke Bein, um zu verhindern, dass sich seine Hose am Knie
ausbeulte. «Hohe Spielschulden? Immerhin hat er die Nacht am
Roulettetisch verbracht.» Offenbar war der Ispettore noch
nicht bereit, sich von der Selbstmordtheorie zu
verabschieden.
Tron schüttelte
den Kopf. «In solchen Fällen greifen Offiziere zur
Dienstwaffe und feuern sich in die Schläfe. Schon um zu
verhindern», fügte er mit einem anzüglichen Blick
auf Bossis makellose Uniform hinzu, «dass die Dienstkleidung
leidet.»
Bossi hatte keine
Gelegenheit, darauf zu antworten, denn in dem Moment klopfte es
draußen an die Tür. Es war Sergeant Kranzler, der
Hüter von Spaurs Vorzimmer, sein Kaffeekocher und
Proviantmeister. Das Gesicht des Sergeants war ernst. «Der
Baron möchte Sie beide sehen, Commissario. Und zwar
sofort.»
34
Während sie
langsam die Treppen zu Spaurs Büro emporstiegen, fragte sich
Tron, in welcher Verfassung sie den Polizeipräsidenten
vorfinden würden. Hatte Spaur die neueste Hiobsbotschaft noch
in Gegenwart der Baronin empfangen oder erst auf der Questura von
Sergeant Kranzler? Traf Ersteres zu, dann hatte Spaur bereits ein
unangenehmes Gespräch mit seiner Gattin geführt, und
entsprechend grauenhaft würde seine Laune sein. Tron konnte
sich lebhaft vorstellen, wie die Baronin reagiert hatte. Nach
diesem Mord konnte Spaur eine kaiserliche Einladung in die Hofburg
definitiv vergessen — zweifellos ein schwerer Schlag für
die Baronin. Was wiederum bedeutete, dass Spaur genötigt sein
würde, seine junge Frau auf andere Weise zu beglücken.
Also noch mehr Geld für Schmuck und Garderobe auszugeben, als
er ohnehin schon tat.
Dabei konnte man nicht
behaupten, dass Signorina Violetta, ehemals Soubrette am Malibran,
den Polizeipräsidenten listig in die Ehefalle gelockt hatte.
Tron hatte dieses Märchen lange Zeit geglaubt, musste dann
aber feststellen, dass er sich getäuscht hatte.
Tatsächlich war es Spaur gewesen, der Signorina Violetta
hartnäckig bekniet hatte, ihn zu heiraten. Und in Wahrheit
hatte die Signorina gezögert, einen Mann zu ehelichen, der
fünfunddreißig Jahre älter war als sie. Da der
Polizeipräsident sich in der Rolle des attraktiven
Junggesellen gefiel, hatte er überall — auch bei Tron
— den Eindruck verbreitet, Signorina Violetta
hätte ihn in diese Ehe
gedrängt.
Sie war eine
brünette, schlanke Fünfundzwanzigjährige mit
kohlschwarzen Augen, und als Tron sie zum ersten Mal gesprochen
hatte, war er von ihrer natürlichen Art angenehm berührt
gewesen. Dass sich an diesem Verhalten nach ihrer ehelichen
Erhebung zur Baronin nichts änderte, sprach in seinen Augen
unbedingt für sie. Und war es nicht verständlich, dass
die Baronin den Wunsch hatte, in der Welt, in die sie eingeheiratet
hatte, auch akzeptiert zu werden? Und dass sie deshalb
allergrößten Wert auf eine Einladung in die Hofburg
legen musste? Dass die Baronin sich nicht scheute,
beträchtliche Summen für Schmuck und Garderobe
auszugeben, lag wahrscheinlich auch daran, dachte Tron, dass Spaur
seiner jungen Gemahlin gegenüber die eigenen finanziellen
Verhältnisse ein wenig zu rosig dargestellt hatte.
Unwillkürlich
fiel ihm der bayerische König Ludwig ein — nicht
der zweite Ludwig, der erst kürzlich die
Regentschaft angetreten hatte, sondern der erste, den eine ganz ähnliche
Konstellation zu Fall gebracht hatte. Wie alt war der König
gewesen, als er im Herbst 1847 die spanische Tänzerin Lola
Montez zum ersten Mal auf der Bühne gesehen hatte? Tron tippte
auf sechzig. Womit sich — wenn man die Montez auf
fünfundzwanzig schätzte — ebenfalls eine Differenz
von fünfunddreißig Jahren ergab. Die schöne
Andalusierin, in Wirklichkeit aus Irland und nicht aus Sevilla,
hatte knappe zwei Jahre gebraucht, um ihren Liebhaber zu ruinieren.
Am Ende musste der König abdanken, und die Montez war
gezwungen, München fluchtartig zu verlassen. Ob Spaur die
traurige Geschichte von Ludwig und Lola kannte? Ja, sicher. Ganz
Europa hatte damals den Skandal am bayerischen Hof mit
größtem Interesse verfolgt.
*
«Dieser
Mord», sagte Spaur verdrossen, nachdem Tron und Bossi vor
seinem Schreibtisch Platz genommen hatten, «geht die Questura
im Grunde nichts an. Wenn ein kaiserlicher Offizier eine Leiche auf
einem Militärgelände entdeckt, ist das kein Fall für
die venezianische Polizei. Das habe ich jedenfalls versucht, der
Baronin zu erklären.»
Der
Polizeipräsident
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