Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
einen bequemen Gehrock aus dunkelgrauem
Wollstoff, dazu eine lässig gebundene Schleife und rote
Filzpantoffeln mit dem Lilienwappen der Bourbonen. Henri de Bourbon
hatte sich den Bart abnehmen lassen. Er schien schlanker geworden
zu sein und wirkte jünger, als Tron ihn in Erinnerung hatte.
In der Hand hielt er eine große Serviette. Ob er sie aus
Zerstreutheit mitgenommen hatte oder auf diese Weise demonstrieren
wollte, dass man ihn beim Frühstück gestört hatte,
blieb offen. Auf der Manschette seines linken Ärmels war ein
roter Fleck zu erkennen. Tron musste unwillkürlich an die
blutigen Manschetten Zuckerkandis denken.
Seinem Ruf
entsprechend, war der Comte de Chambord die Verbindlichkeit in
Person. Nachdem sie Höflichkeiten ausgetauscht hatten, nahmen
sie Platz, und Tron gab eine kurze Schilderung der Ereignisse der
vorletzten Nacht. Als er seinen Bericht beendet hatte, wiegte der
Comte nachdenklich den Kopf. Seine Reaktion auf Trons Mitteilung,
die den Ausweider mit dem Palazzo
Cavalli in Verbindung brachte, war staatsmännisch gelassen.
«Der Mann hat sich in unseren Garten
geflüchtet?»
Dass der Comte de
Chambord von sich selbst im Pluralis Majestatis sprach, war Tron
bei früheren Begegnungen nicht aufgefallen. In Kombination mit
seiner fast leutseligen Höflichkeit wirkte das verwirrend. Man
wusste nicht so recht, woran man war. Vermutlich, dachte Tron, war
das beabsichtigt.
Tron nickte. «Es
ist nicht auszuschließen, dass der Mann, den wir suchen, zum
Haushalt Ihrer Hoheit gehört. Wir wissen - wie gesagt - leider
nur, dass er glatt rasiert ist und einen ausländischen Akzent
hat.»
Der Comte de Chambord
musterte Tron kühl. «Das dürfte Ihnen kaum
behilflich sein.»
«Warum
nicht?»
«Weil es
sich», sagte der Comte, «bei den einzigen Personen, auf
die diese Merkmale zutreffen, um Signor Sorelli und Pater Francesco
handelt.» Der Comte faltete seine Serviette zusammen und sah
Tron lächelnd an. «Genau genommen, Commissario,
müssten Sie auch uns verdächtigen», sagte er.
«Wir sind glatt rasiert und haben einen ausländischen
Akzent.»
Tron gab das
Lächeln des Comtes zurück. Er schwieg einen Moment und
sagte dann beiläufig: «Es hat Hoheit jemand gestern
Abend auf der Piazza gesehen.»
Na bitte. Darauf war
der Comte de Chambord nicht gefasst. Tron sah, wie seine
Gesichtszüge einen Augenblick lang verrutschten, sich dann
aber sofort wieder glätteten.
Der Comte
lächelte gequält. Offenbar hielt er es für unklug,
seinen gestrigen Ausflug abzustreiten. «Darf ich erfahren,
wer uns dort gesehen
hat?»
«Baron
Spaur», sagte Tron. «Er hat Hoheit gegrüßt
und sich darüber gewundert, dass Hoheit ihn ignoriert
haben.» Immer noch in scherzhaftem Ton fuhr er fort:
«Aber vermutlich haben Hoheit ein Alibi für den
gestrigen Abend.»
Der Comte nahm
Blickkontakt zu seinem erlauchten Vorfahren auf. Dann begann er, so
als könnte er die Frage wegwischen, den roten Fleck auf seinem
Ärmel mit der Serviette zu bearbeiten. «Ich
furchte», sagte er schließlich, «ein Alibi haben
wir nicht. Die Angelegenheit, in der wir gestern Nacht unterwegs
waren», fuhr er fort, «erfordert äußerste
Diskretion. Zeugen über unseren Aufenthaltsort am gestrigen
Abend werden wir Ihnen nicht nennen können.»
«Darf ich Hoheit
fragen, warum nicht?»
Der Comte senkte die
Stimme zu einem Flüstern. «Weil es um das Schicksal
Frankreichs geht», sagte er. «Wir hatten eine
Unterredung, die weder im Palazzo Cavalli noch an einem
öffentlichen Ort stattfinden konnte. Die Agenten Napoleons
überwachen jeden unserer Schritte.»
Womit er, dachte Tron,
wahrscheinlich richtig lag. Allerdings war zu vermuten, dass auch
der kaiserliche Geheimdienst den Comte observierte. Eigentlich
hätte er sich jetzt intensiv nach Julien und dem Pater
erkundigen müssen. Aber es erschien ihm sinnlos. Er hatte
bereits genug erfahren.
Tron stand auf und
verbeugte sich. Als er den Gesichtsausdruck des Comtes de Chambord
sah, wusste er, dass er nicht vergeblich in den Palazzo Cavalli
gekommen war. Er sah aus wie jemand, der einem etwas verkauft
hatte, das sein Geld nicht wert war — einen falschen
Goldbarren, einen Welpen ohne Stammbaum. Hier war es ein Alibi
gewesen, so dünn, dass man die Zeitung hindurchlesen konnte.
Aber konnte man sich vorstellen, dass der Comte de Chambord durch
die einschlägigen Etablissements streifte und nach
grünäugigen Blondinen suchte, um sie zu erdrosseln und
auszuweiden? Nein, dachte
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