Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
ausgesprochen
tatendurstig.
*
Ispettor Bossi, der
feuchten Kälte wegen die Hände tief in den Taschen seines
dunkelbraunen Mantels vergraben, drückte den Rücken an
die Seitenfassade von San Vidal und spähte aufmerksam in den
Nebel. In zwanzig Schritten Entfernung zeichnete sich die Mauer um
den Garten des Palazzo Cavalli als dunkle Masse ab — zu weit,
um viel erkennen zu können, doch die schwere, mit Eisenblech
beschlagene Pforte würde beim Offnen ein Geräusch
machen.
Also war es der Comte
de Chambord, auf den er hier im Nebel wartete, posthumer Sohn des
Herzogs von Berry, Enkel des letzten Karl und — wer konnte es
ausschließen? — vielleicht eines Tages der König
Frankreichs. Nicht dass Bossi die hohe Stellung des Comtes
eingeschüchtert hätte — ganz im Gegenteil. Er fand,
dass die Angelegenheit durch diesen Umstand einen zusätzlichen
Reiz erhielt, den sie nicht gehabt hätte, wenn es sich hier um
die Taten eines Bratkoches oder Bierwirtes gehandelt
hätte.
Ein eisiger
Windstoß vom Campo di Santo Stefano brachte die Nebelmassen
vor ihm in leichte Wallung, und er zog die rechte Hand aus der
Tasche, um den Kragen seines Mantels nach oben zu schlagen. Er
hatte seinen Posten kurz nach sieben eingenommen. Wenn er Pech
hatte, würde er noch ein paar Stunden in der Kälte stehen
müssen, bevor der Comte auftauchte. Und wenn es noch
schlechter kam, würde der zukünftige König
Frankreichs die Nacht in seinem Bett verbringen. Bossi hatte sich
vorgenommen, bis Mitternacht zu warten — falls er bis dahin
nicht erfroren war.
Es war kurz nach neun,
als er ein quietschendes Geräusch an der Gartenmauer
hörte und unwillkürlich den Atem anhielt. Dann sah er zu
seiner Überraschung, dass zumindest der Anfang der Operation
einfacher verlaufen würde, als er befürchtet hatte. Es
war unglaublich, aber der Comte de Chambord trug eine Blendlaterne
in der Hand. Ein paar Sekunden blieb er vor der Pforte stehen und
drehte den Kopf hin und her — wie ein Raubtier, das die
Witterung aufnimmt. Dann wandte er sich zum Campo di Santo Stefano,
und nachdem er den Platz zur Hälfte überquert hatte, bog
er in die Calle dello Spezier ein.
Dem Schein der
Blendlaterne in sicherer Entfernung zu folgen war kein Problem. Da
Bossi Schuhe mit weichen Sohlen trug, waren seine Schritte
unhörbar, und offenbar fühlte sich der Comte
vollständig sicher, denn er drehte sich kein einziges Mal um.
Als sie die Piazza San Marco überquerten, musste Bossi ein
wenig aufschließen, denn der Markusplatz war trotz des
üblen Wetters belebt, und der Comte de Chambord war nicht der
Einzige, der eine Laterne mit sich führte. Der Comte
verließ die Piazza durch den Bogen unter dem Torre
dell'Orologio, lief in die Frezzeria, und ein paar Minuten
später hatten sie den Campo della Guerra erreicht. Dort blieb
er stehen, setzte seine Laterne ab, und Bossi sah, wie er in die
rechte Manteltasche griff und sich eine Maske vor das Gesicht zog.
Dann ging er langsam weiter, und vor einem Gebäude, dessen
Eingang von zwei funzligen Petroleumlampen erleuchtet wurde, blieb
er stehen, prüfte noch einmal den Sitz seiner Maske und
stieß die Tür auf.
Das Deila Guerra also
hatte sich der Comte für diesen Abend ausgesucht, ein
Tanzlokal von zweifelhaftem Ruf, das Bossi noch nie betreten hatte.
Jedenfalls konnte er dem Comte jetzt folgen, ohne sich
verdächtig zu machen — als einer von vielen Signori, die
hier ebenfalls ein wenig Entspannung suchten. Bossi stieß die
Tür auf und fand sich in einem geräumigen Vestibül
wieder. Auf der gegenüberliegenden Seite war über einem
großen Vorhang aus blauem Samt das Wort Ballsaal zu lesen.
Stimmengewirr, lautes Gelächter und Musik drangen durch den
Vorhang. Der Comte stand an der Garderobe, und Bossi sah, dass es
sich zweifellos um denselben Mann wie gestern handelte: Er hatte
dasselbe unauffällige Kinn um denselben merkmalslosen Mund.
Nur trug er heute eine andere Halbmaske, eine schwarze. Nachdem der
Comte seinen Mantel abgegeben und ein rosa Billett dafür
empfangen hatte, wandte er sich zum Eingang des Ballsaals, und
Bossi folgte ihm.
Als Bossi, der jetzt
ebenfalls eine Halbmaske übergestreift hatte, den Raum betrat,
stellte er fest, dass die Bezeichnung Ballsaal maßlos
übertrieben war. Was sich Saal nannte, war in Wirklichkeit ein
ehemaliger Lagerraum mit gelblich getünchten Wänden und
einer niedrigen Balkendecke, an der in regelmäßigen
Abständen Petroleumlampen aufgehängt waren. Die
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