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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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   »Mir ist anderes zu Ohren gekommen.« Für die Dauer des Satzes unterbrach er das rhythmische Klopfen, um es erneut aufzunehmen, sobald er wieder schwieg.
          »Auch das weiß ich«, antwortete ich. »Ich wollte es Ihnen gestern ankündigen, aber Sie waren gerade beschäftigt.«
          Einen kurzen Moment lang hielt er den Bleistift wieder still. »Du wolltest es ankündigen?«
          »Ja.« Ich erzählte ihm vom Getrommel begleitet von Fritz’ Versuch in der Toilette, von meiner Ablehnung, von der Geldforderung gestern und kam mir wie ein Denunziant vor, stotterte vor Aufregung und Scham. Das Geklopfe machte mich nervös, wirbelte meine Gedanken durcheinander und nahm mir die Worte, bevor ich sie sortieren konnte. Aber mein Chef musste mich verstanden haben. Er wartete, bis ich fertig war, dann hielt er den Stift wieder still und erhob sich aus seinem Stuhl. »Wie dem auch sei«, sagte er. »Ich halte mein Wort. Bitte pack deine Sachen und verschwinde.«
          »Aber …«
          »Es mag so gewesen sein, wie du es erzählst. Aber es ist deine kriminelle Veranlagung, die Unruhe und Streit bringt. Ohne dein unnötiges Bekenntnis hätte Fritz keine Gelegenheit gehabt, sich Hoffnungen zu machen und dich zu erpressen. Also pass in Zukunft auf, was du erzählst.« Er ging zur Tür.
          »Was ist mit der Aufführung heute Abend?«, rief ich ihm hinterher.
          »Wir haben schon eine Vertretung gefunden. Alles Gute für die Zukunft.« Er verschwand ohne ein weiteres Wort. Ich stand sprach- und regungslos vor meinem Schreibtisch. Es gab kaum Sachen, die ich packen konnte. Ich hatte kein Bild meiner Familie auf dem Schreibtisch, keine eigenen Skizzen. Ich hatte nichts.
          Kein Zeugnis, keine Bestätigung über das Praktikum, keine Arbeitsmappe, keine Zukunft.
          Wie viel Mühe hatte es bedeutet, an der Akademie aufgenommen zu werden? Ich hatte Arbeiten eingereicht, eine praktische und eine mündliche Prüfung abgelegt, das Auswahlverfahren überstanden, endlich die Praktikumsstelle beim Theater erhalten und dieser Drecksack machte mir alles zunichte.
          Ich konnte mich nicht bewegen, starrte meinem Chef nach auf die geschlossene Tür. Den Mantel hatte ich noch an, obwohl ich im Büro schwitzte. Leere lag vor mir, Leere lag in mir. Wie ein gähnendes dunkles Loch öffnete sich das Maul der Perspektiven bedrohlich und finster, kam auf mich zu, doch mir fehlte die Kraft, wegzurennen. Kann man der Zukunft überhaupt davon laufen?
          Ich konnte nicht einmal überlegen, wohin ich sollte. Es gab keinen Weg, der sich vor mir auftat, nur Abgrund. Jeder Schritt, den ich aus dem Büro ginge, würde mich ins Nichts führen. Noch war kein Platz für Gedanken an meine Vermieter, daran, wie ich das Zimmer bezahlen sollte. Noch war kein Raum für praktische Überlegungen. Ich ging aus dem Büro, aus dem Gebäude, ohne an meine Lohnsteuerkarte oder mein Versicherungsheft zu denken. Den kalten Wind, der über den Gärtnerplatz wehte, nahm ich genauso wenig wahr, wie den Verkehr. Weder sah ich andere Fußgänger, noch die Gleichgesinnten, die am Platz auf Kontakte warteten. Meine Schritte führten mich voran, bestimmten die Richtung, ohne dass ich Einfluss genommen hätte. Habe ich mir eine Zigarette angesteckt? Sangen Vögel? Blödsinn. Es war Januar, da versammelten sich höchstens Krähen auf den Bäumen, Vögel, so schwarz wie alles, was vor mir lag.
          
          Ich hörte nicht, dass jemand meinen Namen rief, zuckte erst zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Die geometrischen Formen vor meinen Augen wurden langsam wieder zu Häusern, Fahrzeugen und Menschen, die schwirrenden Figuren um mich herum langsam wieder zu Leben, das Rauschen in meinem Ohr zu unterscheidbaren Geräuschen.
          »Siegfried.« Der Schatten vor mir wurde langsam zu Darius, seine Stimme zu einer Realität im Hier und Jetzt.
          Ich stand vor seinem Haus, ob ich geklingelt hatte, wusste ich nicht. Er trug die Lederjacke und die Jeans, die mich vor wenigen Tagen noch neidisch gemacht hatten. Da er nicht in der Tür stand, kam er wohl nicht aus der Wohnung. Ich schaute auf die Uhr, als ob Zeit noch irgendeine Bedeutung für mich gehabt hätte. Halb fünf.
          ›Um halb fünf werde ich mich gerade über Fritz ärgern.‹
          »Bin ich zu spät?«, fragte Darius.
          Ich schüttelte den Kopf. Er drängte sich an mir vorbei zur

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