Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
ihn reden und planen. Wenn ich etwas mitbekommen hatte, reagierte ich. »Ich habe einen Rucksack.«
Darius nickte kurz, dann fuhr er fort. Zwischendurch trank er Tee, berührte mich am Rücken oder am Kopf, manchmal lehnte er sich an und legte die Beine wieder auf den Mosaiktisch, während ich aufrecht auf der Couch saß und seine Planungen an mir vorbeiziehen ließ, bis er mich rausschmiss. »Die Vorstellung müsste jetzt vorbei sein. Mach alles wie besprochen.« Er schob mich zur Garderobe, half mir in den Mantel, gab mir einen Kuss auf den Mund, den ich nicht abwehrte. »Ich freu mich.«
»Ich mich auch«, sagte ich so tonlos, dass er es mir unmöglich geglaubt haben kann. »Wolltest du heute Abend nicht tanzen gehen?«
Taub ging ich durch die Straßen zu mir, taub erwiderte ich den Gruß meiner Vermieter und verneinte die Frage, ob ich noch etwas essen wollte. Ich zog meinen Rucksack unter dem Bett hervor. In ihm hatte ich alle meine Sachen transportieren können, als ich aus dem beschaulichen Altfraunhofen in die große Stadt gezogen war. Zwei Hosen, vier Oberhemden, zwei Wollpullover, ein paar Socken, Unterwäsche, zwei Schlafanzüge und meinen Zeichenblock. Mehr brauchte ich nicht, um in ein möbliertes Zimmer zu ziehen. Die Sommerkleidung lag noch bei meiner Mutter und Theodore.
Was ich in München hatte und nicht gerade in der Wäsche lag, die Frau Bergmoser freundlicherweise für mich erledigte, stopfte ich in den Rucksack. Ich räumte den Schrank aus, als wollte ich ausziehen. Erst, als ich gepackt hatte, sah ich in einer kleinen Blechdose, die immer auf der Heizung stand, nach, wie viel Geld ich noch hatte. Es waren genau 247 Mark und 26 Pfennig. Da ich selten tanzen ging und mir kaum etwas kaufte, hatte ich genug gespart, um mir den Urlaub leisten zu können. Eigentlich sollte es für Zeiten sein, in denen ich während des Studiums nicht genügend arbeiten konnte. Dafür brauchte ich es nicht mehr. Ich steckte es in mein Portemonnaie und überlegte, ob ich noch bei den Bergmosers klopfe, um sie über meine Reise zu unterrichten. Nach einem Blick auf den Wecker entschied ich mich dagegen. Es war kurz nach Mitternacht. Ich putzte mir nur noch die Zähne, zog mich aus und ging ins Bett.
Taub lag ich wach, drehte mich von einer Seite auf die andere und ärgerte mich über die Gedanken, die mich überfielen wie die Heuschrecken Ägypten. Wie Insekten fraßen sie sich über meinen Kopf in mein Gedärm, beschleunigten den Herzschlag, die Angst und die Wut. Ich wollte laut ›Arschloch‹ schreien, wenn ein Gedanke den Namen Fritz brachte, ich wollte laut ›Scheiße‹ brüllen, blitzte das Wort Zukunft auf. Mutter, Theodore, Fritz, Vater, die Bergmosers, mein Chef, die Akademie, alle wirbelten in meinem Kopf, ohne dass ich sie zu fassen bekam. Und über jedem Gedanken thronte die Frage: »Was nun?« Unkonstruktiv, lähmend, jede Antwort blockierend, jede Überlegung vernichtend. Zurück nach Altfraunhofen, in dieses Kaff, in dem ein junger Mann schon verdächtig war, wenn seine Feinmotorik es ihm erlaubte einen Teller abzuwaschen, ohne ihn zu zerbrechen? Zu meinem Vater, dem Karrieristen, der es geschafft hat, im Schuldienst zu bleiben, obwohl er ein überzeugter Nazi gewesen ist? Der mich, als ich acht Jahre alt war, aus der Kinderverschickung geholt hatte, nur weil ihm meine Freundschaft zu Heinrich suspekt erschienen war? Was sollte ich meinen Vermietern meine Entlassung beibringen? Was sollte ich ihnen als Kündigungsgrund angeben? Ich hatte alle enttäuscht, nur weil ich war, wie ich war, und nichts dagegen tun konnte. Nur, weil ich verdammter Idiot meine Klappe nicht halten konnte, weil so ein hirnrissiger Depp meine Offenheit ausnutzen musste.
Ich versuchte die Gedanken zu leiten, Darius irgendwo aus ihnen zu fischen. Ich versuchte zwanghaft zu überlegen, wovon wir uns in seiner Hütte ernähren sollten. Aber es war vergeblich. Fragen zu dem Einzigen, was ich über die Zukunft wusste, fanden keinen Halt. Sie wurden abgestoßen durch den Vorwurf, verkommen zu sein. Sogar jetzt, da mich meine kriminelle Neigung in den Ruin geführt hatte, hatte ich nichts Besseres zu tun, als mit einem Freund eine sündhafte Woche in der Einsamkeit zu verbringen. Die Verdorbenheit siegte über den Verstand. ›Du bist nichts, als ein erbärmlicher Perverser‹, schrien die Heuschrecken und tanzten, bis sie mich in den Schlaf entließen.
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