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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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für das Unrecht, das Fritz mir zugefügt hat. Wahrheiten?
          Stumm lief ich weiter, zu faul oder zu erschöpft, auf die leise Wiederholung der Orchestertöne der vergangenen Tage zu antworten. Ich hatte keine Kraft mehr. Ich wollte endlich in München ankommen.
          ›Wie lange weißt du schon vom Reiz der Männer?‹
          »Schon immer«, antwortete ich trotzig. Mühsam folgte ich meinen Schritten. Nur sie waren zu hören, wenn die Heuschrecke auf meinem Kopf die Flügel stillhielt. Während ich lief, hielt die Natur den Atem an.
          »Es gehört zu mir, so selbstverständlich, wie ich die Füße voreinander setze, um vorwärtszukommen, die Augen öffne, um zu sehen und still bin, um zu hören.«
          ›Es ist nicht normal. Ist dir das nie aufgefallen?‹
          Schritte durch die Stille, zehn, zwanzig, fünfzig vielleicht.
          »Für mich ist es normal. Es ist meine Empfindung. Ich habe sie mir nicht ausgesucht.«
          ›Also bist du verdorben. Das ist die Wahrheit. Wenn es für dich normal ist, bist du verdorben.‹
          »Und wenn schon. Was kann ich dafür?«
          ›Du kannst dich ändern. Du musst nicht verdorben bleiben, wenn du erkennst, dass du es bist.‹
          »Dann würde ich lügen. Ich wäre nicht mehr ich. Ich kann doch nicht einfach meine Gefühle, meine Sehnsucht ändern.«
          ›Jeder kann sich ändern, wenn er nur will.‹
          Ich sah über das Feld am Straßenrand, sah den Weg entlang. Keine Heuschrecken. Sie hatten sich nicht verzogen, sie hatten sich verändert, zirpten nicht mehr, sondern wisperten, lispelten aus breiten Mündern mit gespaltenen Zungen.
          Schlangen. Ich trat durch ein Meer von Schlangen, das den Straßenbelag bedeckte, die gefrorenen Felder, aber ich erschrak nicht. Ich nahm es hin, wie ich die Grillen und den Wolpertinger hingenommen hatte, das Haus, das mich abends und morgens mit Nahrung versorgte, Schinken und Brot in meinem Rucksack, die jedes Mal, wenn ich sie herausholte, die gleiche Größe hatten. Ich nahm sie hin, wie ich die Beschimpfungen hingenommen hatte. Als wären sie immer schon da gewesen. Als wären sie normal.
          »Was ist so schlimm daran, wie ich bin?«, rief ich. »Ich schade doch niemandem, ich liebe, richte meine Sehnsucht aus. Was ist daran verdorben?«
          ›Rationalisierungen‹, zischte die Schlange auf meinem Kopf, ›rhetorische Fragen, um dich vor der Wahrheit zu verstecken.‹
          Wahrheit, immer wieder Wahrheit. Viel zu oft bemühtes Wort für Meinungen. Was wollten diese Heuschlangenschrecken von mir? Dass ich mich versteckte, verleugnete? Dass ich mich veränderte? Zur Schlange?
          Schritte - Schlangen, die weder auswichen noch bissen, wenn ich darauf trat. Der Weg uneben und lebendig, unsicher. Die Füße fanden keinen Halt und doch kam ich voran. Schritt für Schritt.
          »Welche Wahrheit, wessen Wahrheit von wem bestimmt? Ich will doch nur so leben dürfen, wie ich bin.«
          ›Kannst du es?‹
          »Nein!«
          ›Warum nicht?‹
          »Weil …«
          ›Pst.‹
          Weil es Gesetze gibt, die es verbieten, Gesetze, die ich nicht verstehe. Weil es Menschen gibt, die mich dafür meiden, weil ein dämlicher Erpresser mir mein Studium …
          ›Such den Fehler in dir!‹
          »Aber es ist doch die Wahrheit.«
          ›Nur die halbe.‹
          Die Schlange glitt an meinem Körper hinab. Wie auf Befehl zogen sich alle Tiere zurück. Der Weg wurde fester, keine Haut knirsche mehr unter meinen Füßen wie Schnee. Die Straße war frei. Nur in der Ferne, am Rand der Felder, konnte ich sie sehen. Gleich einer Welle, die nicht an den Strand gespült wurde, sondern daran entlang, begleiteten sie meinen Weg und ließen mich in Ruhe.
          Sie waren da, als ich rastete, sie blieben, als ich weiter ging, bis ich am Abend auf einen Pfarrer traf, der mich fragte, wohin ich unterwegs sei, mich in sein Haus einlud, mir zu essen und ein Quartier für die Nacht gab.
          »St. Aloisius« stand in gusseisernen Buchstaben über dem Tor der Kirche.
          

4.
          
          Entscheidung?
          Setzt eine Entscheidung nicht Kenntnis der Fakten voraus, wenigstens das Wissen um sich selbst?
          Die Zeit schafft es nicht, mir die Angst zu nehmen. Jeden Tag, den Darius länger bleibt, fürchte ich mehr, er wird mich verlassen.
        

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