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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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 Er möchte seinen Job nicht aufgeben, obwohl ich es ihm angeboten habe. Solange er bei mir ist, muss er nicht arbeiten. Doch er fährt jeden Morgen mit der Bahn zu den Landungsbrücken, badet im Frittierdunst einer kleinen Küche, in den immer gleichen Aromen der immer gleichen Gerichte, die er vorbereiten und zubereiten muss, lässt sich herumkommandieren und atmet Sonne oder Regen, wenn er abends wieder in die Freiheit geht.
          »Du musst das nicht tun.«
          »Ich will es tun. Es ist das Leben, das ich mir vor ewigen Jahren mal ausgesucht habe.«
          »Ich fahre dich gern.«
          »Ich weiß.«
          »Warum willst du dann mit der Bahn fahren?«
          »Die Menschen am Morgen, die Zeitung lesen, sich manchmal unterhalten, aber immer Reste der Seelen da lassen. Wie Faserspuren, die einen Mörder verraten.«
          Er zwingt mir Geld in die Hand, für die Lebensmittel, die ich einkaufe.
          »Ich habe genug Geld.«
          »Du hast erlebt, wie gut ich versorgt werde.«
          »Ich habe es erlebt?«
          Darius nickt. »Es ist schön, bei dir zu sein, es ist schön, wenn du für uns kochst, wenn du meine Kleidung wäschst, während ich arbeite und wenn du mir bei Dingen hilfst, die ich nicht kann.« 
          »Aber du musst mich nicht dafür bezahlen.« Ich schwieg und steckte die Scheine ins Portemonnaie.
          Jeden Morgen, wenn er geht, sehe ich ihn in der Küche eines Restaurants verschwinden und nie wieder auftauchen. Jeden Morgen weiß ich, er wird leben. Jeden Morgen lässt er seine Fasern hier. Sie schweben in den T-Shirts, die ich von seinem Bett sammle, und kleben am Rand der Kaffeetasse, aus der er getrunken hat. Sie erfüllen das Haus, seit er da ist, haben es verändert. Es ist, als wäre das Leben, das ich auf meinen Spaziergängen, auf meinen Fahrten in die Stadt gesucht habe, in meine Mauern gezogen und hätte mich mit Aufgaben versorgt.
          Leben ist Unordnung, egal wie sehr die Biologen und Theologen es in Ordnungen einteilen, wie sehr Gesetze oder unsere Moral es regeln. Die Seele von Darius lässt Staubkörner zu, Gläser, die ich stehen lassen kann, eine Jacke, die nur über dem Haken hängt, statt auf einem Bügel. Ordnung ist nur dazu da, Spuren zu verwischen, die Fasern der Seelen zu entfernen, als ob man Menschen mit dem Radiergummi streichen könnte. Mit jedem Atemzug nehmen wir die Seelen der anderen zu uns und geben unsere eigene ab. Wir wandern in der Verwebung der Seelen zur Welt und werden Teil des Ganzen.
          Jeden Morgen habe ich Angst um das Leben in meinem Haus, um den Atem, den Darius mitgenommen hat. Und doch verwische ich die Spuren, stelle das Geschirr in die Spülmaschine, wasche, beziehe das Bett manchmal neu, ordne.
          Ich sage nichts von der Angst. Darius spürt sie, liest sie in meinen Gedanken, auf die er nur antwortet, wenn er sich darin gefangen sieht. Die Angst sticht das Glück aus. Der Stein wetzt die Schere, die Schere zerschneidet das Papier, das Papier bedeckt den Brunnen, in den der Stein fällt. Die Angst ist die Schere, was ist das Glück?
          Ich müsste mich freuen, ich freue mich. Doch in den Tagen, bevor ich Darius traf, konnte ich den Hafen genießen, die kalte, klare Luft des Winters, den Schnee. Jetzt, die Krokusse stoßen die ersten Farbtupfer in die Wiesen, sind die Tage von Melancholie überzogen, die Abende von Sehnsucht. Ich bräuchte mich nur zu ihm legen.
          Glück schmerzt. Wenn sich die Muskeln der Seele erst wieder an das Leben gewöhnen müssen, bekommen sie einen Kater. Ich muss trainieren.
          Die Melancholie und die Sehnsucht brauchen Ventile, brauchen Farben und Formen, in denen sie sich ausdrücken und zeigen. Ich brauche Leinwand, an die ich das Leben werfen kann, einen Pinsel, der es herausspritzt, bunt, schmutzig vom Terpentin, von der Vermischung der Farben trüb und grau.
          Wenn Darius morgens geht, trage ich die Angst und das Glück, Schlüssel und Schloss meines Körpers, in die alte Werkstatt hinten im Gartenhaus und male.
          Wie lange hatte ich das nicht getan? Als wäre Kunst ein Beruf, den man aufgeben könnte, um Rente oder Pension zu kassieren. Als wäre sie ein Fieber, das geheilt war, hatte ich sie in der Werkstatt verhängt und verhüllt, eingeschlossen und ausgesperrt und mich von ihren Früchten ernährt wie von Gnadenbrot.
          Sie empfängt mich nicht mit offenen Armen nach den

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