Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Jahren, misstraut mir, wie ich Darius misstraue, zögert, wenn ich mich über die Leinwand beuge. Die Farben sind vertrocknet, die Staffelei ist morsch, spreizt ihre Beine nicht mehr, ohne einzuknicken. Sie ziert sich, obwohl sie sieht, dass ich sie brauche. Die Leinwand empfängt nicht, die Farben perlen ab, die Grundierung blättert und platzt auf. Die Kreide, mit der ich Konturen zeichnen will, zerfällt zu schwarzem Staub. Nur etwas bleibt hängen, eine Ahnung der Formen.
Es ist kalt im Gartenhaus, in der Ecke vor dem alten Ofen, den ich darin habe, liegen noch ein paar Briketts, die nach meiner letzten Arbeit übrig geblieben sein müssen. Ich gehe in den Garten, sammle ein paar Zweige, die mir trocken genug erscheinen. Wieder zurück lege ich sie vor dem beige und braun emaillierten Ofen ab. Auf einem alten schlichten Holztisch liegen noch ein paar alte Zeitungen, in denen ich früher die Pinsel ausgewischt habe. Ohne nachzudenken, reiße ich sie in Stücke und nutze sie zur Feuerung. Es stinkt nach Terpentin, es bollert, aber die Zweige brennen schnell und greifen auf die Briketts über. Ich setze mich auf einen Stuhl vor die Leinwand auf der maroden Staffelei und warte darauf, dass die Wärme meine Gedanken und Gefühle auftaut. Ich habe immer aus dem Bauch heraus gemalt, wusste bei der ersten Berührung noch nicht um die Komposition, die aus mir fließen würde. Jetzt sitze ich und warte auf eine Idee, ein Bild, vor dem ersten Strich schon vollkommen. Wie soll etwas fließen, wenn es gefroren ist?
Einfach aufstehen, die Kreide in die Hand nehmen, Sehnsucht meinen Arm führen lassen, den Gefühlen freien Lauf. So hat es doch immer funktioniert. So sind die Variationen von Darius entstanden. Männerakte, züchtig genug, die bürgerliche Welt nicht zu verschrecken und die Sexualität in der Fantasie zu belassen. Erotisch keusch genug, sie in der Galerie nicht im Hinterzimmer aufhängen zu müssen. Nackter Darius in gespiegelter Pose an einem Tisch mit sich selbst armdrückend. Darius in Badehose auf dem Sprungturm eines Schwimmbads, nur vibrierendes Metall unter seinen Fersen, kein fester Grund unter den Füßen, die Muskeln angespannt, das Becken unter ihm so weiß, als wäre es mit Milch gefüllt. ›Fotorealistische männliche Anatomien, anregend und sinnlich.‹ So hatten die Kunstmagazine geurteilt.
Langsam nehme ich die Wärme des Feuers auf, meine morschen Knochen knacken nicht mehr. Rauch steht in der Luft, die Abzugsklappe des Ofens ist noch verschlossen. So lange kein Feuer gemacht, so vergesslich. Die einst automatisierten Handgriffe sitzen nicht mehr.
Leinwand atmen, mit dem Gewicht der Kreide in der Hand spielen, sie anheben, wieder absetzen, anheben, wieder absetzen …
Den nächsten Strich riskieren, mit der Hand verwischen und die Form betrachten, die Intuition kommen hören. Fühler, Beine, Flügel, Augen. Vor allem Augen, große Facettenaugen. Eines nach dem anderen, wild verteilt, jedes so groß, dass die Beine es kaum tragen, die Flügel es unmöglich in die Luft erheben können. Bedrohlich flüsternd. Dunkel der Schatten eines Mannes, frierend die Schultern zusammengezogen, in den Hintergrund gedrückt, an die Wand eines zusammengefallenen Hauses. Licht und fahl eine Figur, nicht zu erkennen, nicht zu identifizieren, menschlich in gewisser Weise, doch zerklüftet wie das Massiv eines Berges, scheint sie mit dem Schatten zu reden, ihn zu füttern, mit Milch zu versorgen, ihm die Brust zu geben.
Die Zeit, das Einkaufen, das Kochen, Darius – alles vergessen im Sog der Leinwand. Gebannt davorstehen, Stunden, der Pinsel klebt in meiner Hand am Bild. Den Schnee nicht hören, den Wind nicht, die Schritte nicht.
»Das ist anders, als alles, das du je gemalt hast.«
Aufschrecken, mich umsehen, Darius entdecken, geduscht mit feuchtem Haar in meinem Bademantel durch die Kälte gegangen.
»Ich habe den Rauch gesehen.«
Wann habe ich den Ofen in Gang gehalten?
»Ich bin etwas aus der Übung.«
»Es ist großartig. Düster, aber großartig.«
Verlegen lächeln, einen Blick aufs Bild werfen, zu Darius gehen.
»Danke. Ist dir nicht kalt?«
Mir seinen Arm um die Schulter legen lassen, einen Kuss auf die Stirn.
»Und ich wünschte, es wäre wahr.«
Die Umarmung erwidern. Zwei Freunde – nebeneinander die Blickrichtung
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