Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Herzschlag setzte aus, wenn ich auf den Zettel sah, so als könnte mein Leben ihn erschrecken und die Antwort hinauszögern.
Es geschah nichts.
Die Küche, menschenleer wie die Küchen an den anderen Morgenden, war so still, dass ich nur mein eigenes Kauen, meine Atmung und meinen Herzschlag hörte. Hinter den geschlossenen Fenstern konnte ich die Heuschrecken draußen sehen. Ich brauchte lange, bis ich aufgegessen hatte, der Zettel lenkte mich zu sehr ab. Die Enttäuschung machte mich unruhig, den letzten Bissen noch kauend, warf ich einen weiteren Blick auf das Papier, räumte das Geschirr zusammen und trug es zum Spülbecken. Beim Abwasch trieben mich die Wünsche, schnell wieder auf den Zettel zu sehen und endlich weiterzugehen. Ich wollte in München ankommen, mich von Frau Bergmoser bekochen lassen, die mit mir redete, während ich aß, mich in meinem Zimmer verkriechen und alle Absonderlichkeiten – Heuschrecken und Wolpertinger – aussperren. Endlich wieder ein normales Leben. Von mir aus ohne Darius. Wenn ich erst wieder in München wäre, würde mein Leben sein, wie es war. Ich würde ins Theater gehen, mein Praktikum beenden, ab dem Sommer studieren und aus diesem Albtraum erwachen. Ich musste nur durchhalten.
Beinahe wäre mir vor unkonzentrierter Hektik ein Teller aus der Hand gerutscht, als ich ihn abtrocknen wollte. Ich fing ihn gerade noch auf, stellte ihn, wie jeden Morgen, mit dem anderen Geschirr auf der Anrichte ab und setzte den Rucksack auf den Rücken. Schnell noch den üblichen Dank aufschreiben, den Zettel liegen lassen, den Stift darauflegen, stutzen …
Sie war kaum zu sehen, die Antwort, als hätte jemand die Neige des Tintenfasses zu Wörtern zusammengekratzt.
»Der Kampf um dich.«
Wer kämpfte um mich? Die Heuschrecken und das Haus? Was wollten sie von mir. Ich war ein Nichts.
›Endlich siehst du es ein.‹
Erste Zeile, ich war der Kämpfer. Aber kämpfte ich? Um mich? Welchen Kampf? Ich suchte doch nur Antworten.
»Ein Kampf, den ich offensichtlich nicht verstehe«, schrieb ich hastig auf das Papier. Den Stift warf ich frustriert auf den Tisch. Ich wusste doch, wer ich war, hatte bisher keiner Rätsel bedurft, selbst, wenn ich nicht zur Norm gehörte. Warum musste alles aus den Fugen geraten? Warum tapste ich plötzlich durch ein Leben, das nicht mehr mir zu gehören schien? Der Kampf um mich. Wie war ich da hineingeraten?
»Mist!«, brüllte ich so laut ich konnte, noch bevor ich die Heuschrecken wahrnahm.
Die Wanderung wurde mit jedem Tag beschwerlicher. Die Füße taten weh, der Rucksack drückte heftiger auf den Schultern, die Vorräte schützten mich immer weniger vor der Kakofonie der Heuschrecken. Ich schloss die Augen, hielt mir die Ohren zu und ging blind, als höben Heerscharen von Zwergen, kaum größer als die Heuschrecken, meine Füße an, schleppten sie ein paar Zentimeter vor und setzten sie wieder ab. Wenn ich das Konzert der Grillen abschaltete, meinte ich, die Zwerge unter meiner Last ächzen zu hören. Last, die ich nicht sah, nicht benennen konnte, nur fühlte.
Nach der Stärkung am Mittag, Schinken und Brot wurden in meinem Rucksack nie weniger, versuchte ich, die Augen offen zu halten, mir Kraft aus dem Bildnis der Landschaft zu holen, Atem aus der Natur. Die Sicht war nicht gut am vierten Tag meiner Wanderung, der Himmel war grau und die Temperaturen stiegen nie über die Frostgrenze. Zum Glück schneite es nicht. Die Heuschrecken aber hörten auf zu keifen, zu schimpfen, zu singen. Sie blieben, verstummten nicht vollends. In der Kälte des letzten Januartags veränderten sie nur die Strategie. Dabei kannte ich noch nicht einmal das Ziel. Sie zirpten nicht mehr durcheinander, sondern balzten, als wollten sie mich für etwas gewinnen.
›Wir wollen dich nicht ärgern.‹ Eine von ihnen war offensichtlich zum Sprecher ernannt, flog auf meinen Kopf und wich dem Versuch aus, sie mit der Hand aus meinem Haar zu schlagen.
»Dann verzieht euch.«
›Du kannst Wahrheiten nicht ändern, indem du sie verscheuchst.‹
Wahrheiten? Welche Wahrheiten? Von den Heuschrecken habe ich Beschimpfungen gehört, Schmählieder. Mal haben sie mich als Lügner bezeichnet, mal mir meine Ehrlichkeit vorgeworfen. Immer war ich das verdorbene Subjekt in einer intakten Welt. Immer selbst verantwortlich
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