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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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ein Röcheln. Sie lachte!
    „Das gibt’s doch nicht.“ Ich beugte mich vor und linste in die Öffnung, in der ihr Kopf verschwunden war. Dann klopfte ich sachte auf den Panzer. Plastik. Gewöhnliches Plastik. Und statt Beinen waren giftgrüne Räder an ihrem Rumpf befestigt.
    „Die Risse scheinen größer geworden zu sein“, sagte Rokan. „Eure Welt formt sich neu.“
    Ich war mir nicht sicher, ob das tatsächlich meine Welt war, in der wir gelandet waren. Ich konnte mich plötzlich wieder an Dinge erinnern, die die ganze Zeit von einer dichten Nebelschicht überlagert gewesen waren. Fernseher, Autos, Versicherungsvertreter. Aber zwinkernde Plastikschildkröten kamen darin nicht vor.
    „Hinter den glitzernden Türmen geht etwas vor“, sagte eine volle, tiefe Stimme aus dem Inneren des Panzers. „Jede Nacht hält mich das Summen vom Einschlafen ab.“ Sie streckte den Kopf heraus und deutete auf zwei Wolkenkratzer vor dem Schaufenster. Die Mauern der Hochhäuser bestanden aus spiegelndem Glas, wie bei denen, die ich in dem unterirdischen See gesehen hatte.
    „Was für ein Summen?“, fragte ich. „Und wer bist du überhaupt und warum kannst du sprechen?“
    „Was für eine Frage.“ Sie streckte den Kopf jetzt vollständig heraus und richtete sich ein wenig auf. „Ich bin Anders.“
    „Ja, das sehe ich, aber wie heißt du?“
    Sie sah mich verständnislos an. „Anders, das sagte ich doch schon.“
    „Wie klingt das Summen?“, fragte Rokan.
    „Wie ein Bienenschwarm. Nur ist es ein höherer Ton.“ Anders wiegte den Kopf hin und her. „Ich kann es nicht besser erklären, ich habe so etwas noch nie zuvor gehört.“
    Gertraud räusperte sich auffällig und raschelte mit ihrem Prospekt. Ihre Absätze klackerten auf dem Fliesenboden. „Kann ich Ihnen vielleicht doch helfen?“
    Ich drehte mich um und sah in ihre grellgeschminkten Augen. „Danke, nein, wir können uns nicht entscheiden.“
    Sie machte keine Anstalten zu verschwinden, also murmelte ich nur „Auf Wiedersehen“, packte Rokan am Ärmel und zog ihn zum Ausgang. Ich blickte über die Schulter, aber Anders stand bewegungslos im Regal, wie all die anderen Spielzeuge.
    Die Sonne blendete mich, als ich durch die automatische Tür nach draußen ging. Ich schirmte die Augen mit der Hand ab. Wir befanden uns in einer Einkaufspassage. Die Fußgängerzone war belebt, aber nicht überfüllt. Nicht weit von dem Spielwarengeschäft standen Bänke um einen Brunnen. Eine Linde spendete einer alten Frau und ihrem Dackel Schatten. In Tonkübeln blühten violette und weiße Hortensien. Es roch nach Frühling und nach etwas anderem, das mir nicht gleich einfiel, bis ich ein Kind mit einem riesigen Bausch Zuckerwatte sah. Natürlich!
    „Zuckerwatte“, rief ich. Die Mutter nahm den Jungen an der Hand und zog ihn zu sich heran. „Es ist Kirmes.“
    Rokan sah mich an und zuckte mit den Schultern.
    „Großmutter hat ihr Dorf nur verlassen, wenn es unbedingt notwendig war“, sagte ich. „Sie mochte die Stadt und die Städter nicht. Die Hektik, die Unpersönlichkeit. Aber einmal im Jahr, da hat sie uns in den Bus gepackt und wir sind auf die Kirmes gegangen.“ Ich drehte mich im Kreis, sah mir alle Häuserfronten genau an. Die Schaufenster, das Kopfsteinpflaster. „Seit Großmutters Tod bin ich nicht mehr hier gewesen. Und es hat sich überhaupt nichts verändert. Selbst der Softeisverkäufer steht noch am gleichen Platz. Siehst du?“ Ich zeigte die Straße hinauf, auf den alten Mann im lindgrünen Hemd. Dann stockte ich. War das möglich? Es musste über zwanzig Jahre her sein, konnte sich in all den Jahren tatsächlich nichts verändert haben? Ich ging zum nächsten Papierkorb, zog eine zusammengerollte Tageszeitung heraus und schluckte.
    „Was ist?“ Rokan nahm mir die Zeitung aus der Hand. „Vierter April 1986“, las er langsam vor.
    „In diesem Winter wird Großmutter sterben“, sagte ich. Aus der Ferne wehte Drehorgelmusik zu uns. „Lass uns auf die Kirmes gehen.“
    „Aber sollten wir nicht zuerst nach dem Ursprung des Summens suchen?“, fragte Rokan und warf die Zeitung zurück in den Müll. „Ich bin sicher, das hat etwas zu bedeuten.“
    „Nein, ich muss zum Riesenrad. Ich habe mein Armband verloren. Das mit den rosa Perlen.“
    Ohne weiter nachzufragen deutete Rokan mit dem Kinn in die Richtung, aus der die Musik zu kommen schien. „Dort entlang?“
    „Ja, das ist der richtige Weg.“
    Wir gingen schweigend nebeneinander her. Ab und

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