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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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zu bemerkte ich, wie jemand Rokan anstarrte. Er sah auch nicht gerade alltäglich aus, in seinem wehenden Mantel, ganz in Schwarz gekleidet, das lange Haar immer noch feucht, hinter die Ohren gestrichen. Aber er trug das Kinn hoch und wirkte trotz seines Kleinwuchses, groß. Groß und stolz.
    Zuerst konnte ich das Riesenrad sehen; die Menschenmenge, die zwischen den Karussells und Buden mäanderte, wie ein träger, bunter Fluss. Die laute Musik, die das Lachen und die Stimmen übertönte. Dann sah ich meine Großmutter am Eingang des Riesenrades stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Hand an der Handtasche. Auf dem Kopf ein Hut, der aussah, als hätte sie sich eine Schale mit Obst aufgesetzt. Ich blieb stehen und sah zu, wie sie ihre Kräuterbonbons aus der Tasche kramte, sich eins davon in den Mund steckte. Dann blickte sie in unsere Richtung und winkte.
    Auf der Treppe zum Kassenhäuschen hockte ein Mann, die angezogenen Beine mit den Armen umschlungen. In der Hand hielt er eine Hundeleine, an deren Ende etwas zappelte und hüpfte. Ich rieb mir die Augen. Eine Ente. Der Mann führte eine Ente spazieren. Ein vielleicht fünfjähriges Mädchen beugte sich zu der Ente hinunter und streichelte ihren Kopf, bevor es hinter seinen Eltern herlief und eine der Gondeln bestieg.
    Meine Großmutter bahnte sich den Weg durch die Menge auf uns zu. Ihr Gesicht wirkte schmal, die Wangenknochen eingefallen. Sie hielt ihre Handtasche vor sich wie ein Schutzschild. Und sie paffte weiße Kringel aus einer kleinen silbernen Pfeife, die schräg in ihrem Mundwinkel hing. Ich konnte mich nicht erinnern, Großmutter jemals rauchen gesehen zu haben. Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht, doch außer mir schien das niemand zu bemerken.

14
    D ie Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, es musste früher Nachmittag sein. Großmutter Rose kaufte uns Eis und wir schlenderten über den Platz, der immer voller wurde. Sie klemmte die mittlerweile erloschene Pfeife hinter einen Johannisbeerzweig, lüpfte ihren Früchtehut und zog einen Glückskeks darunter hervor. Ich starrte sie mit offenem Mund an und bekleckerte mich mit Eis.
    „Den hatte ich fast vergessen“, sagte sie und zerbrach den Keks in zwei Hälften. Die eine schob sie in den Mund, und während sie geräuschvoll kaute, faltete sie den kleinen Zettel auseinander. „Auf fremdem Arsch ist gut durch Feuer reiten“, las sie laut vor und kicherte. Dann wurde sie ernst und sah mich an. „Hüte dich vor dem Feuer, Kind. Spiel nicht damit und begegne ihm mit Respekt.“
    „Was meinst du damit?“, fragte ich.
    Großmutter zupfte an den Weintrauben, die über ihrem rechten Ohr baumelten, und reagierte nicht.
    „Rosie?“, hakte ich nach, doch sie schloss die Augen.
    „Es brennt kalt und heiß, rot und weiß, doch niemals blau wie die Mitternachtslichter“, sagte sie.
    Rokan hielt meinen Arm fest, als ich Großmutter berühren wollte. „Nicht“, sagte er, also wartete ich und beobachtete Rosies Gesichtszüge. Sie schien gleichzeitig zu lächeln und ängstlich zu sein. Wir standen inmitten des Menschenstroms, der sich vor uns teilte und hinter uns wieder schloss. Erst als ein paar Jugendliche Knallfrösche auf den Boden warfen, öffnete sie die Augen.
    „Worauf wartet ihr?“, fragte sie. „Wolltet ihr denn nicht noch einmal Karussell fahren?“ Sie strich mir über den Kopf. „Sei nicht mehr traurig wegen deinem Armband. Wir sehen später, ob wir ein neues für dich finden.“
    Ich versuchte zu lächeln. „Schon gut, Großmutter. Lass uns weitergehen.“
    Als wir den Platz fast umrundet hatten, blieb Rokan wie angewurzelt stehen und ich prallte auf ihn. Der Rest meines Erdbeereises platschte auf den Boden.
    Vor uns befand sich die Geisterbahn. Der Eingang, in dem die Gondeln verschwanden, war mit schwarzen Federn eingefasst, als umarmte ihn ein riesiger Rabe mit seinen Flügeln. Das Wort Rabenschloss leuchtete in roten und gelben Glühbirnen darüber. Ich ging einen Schritt zurück und schirmte meine Augen vor der Sonne ab. Das Gebäude stellte ein Schloss dar, doch die Türme sahen aus wie Rabenkörper, mit schwarzen Schnäbeln, die die Dächer bildeten.
    „Ich möchte dort hinein, bitte“, sagte Rokan und zupfte Großmutter wie ein Kind am Ärmel.
    Sie stellte sich am Kassenhäuschen an. Vor ihr in der Schlange wartete ein Mann. Er trug ein kariertes Hemd, Jeans, braune Cowboystiefel und einen Bademantel.
    Jedes Mal, wenn eine der Gondeln startete, tappte Rokan aufgeregt von

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