Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
deinen Knochen und Herz und Blut darunter.“
„Nägel und Krallen, Feder und Haar“, flüsterte der Junge, ohne aufzusehen.
„Untrennbar miteinander verbunden“, fuhr Rokan fort. „Du weißt es, hör zu und erinnere dich.
Die Raben kamen aus dem Norden, am Anbeginn der Zeit; besiedelten das Land und die Wälder, lebten von Tag zu Tag, von Mahlzeit zu Mahlzeit, hatten ihren Frieden mit sich und der Welt, in die sie sich einfügten wie ein Zahnrad ins andere. Sie nahmen nur, was sie zum Leben brauchten und gaben zurück, was sie mussten.
Jahre vergingen, Jahrhunderte, Generation um Generation. Dann drang der Mensch in ihren Lebensraum vor. Begann das Land für sich zu beanspruchen, Wälder zu roden, um Siedlungen zu bauen und das Land zu bestellen. Sie verjagten die Raben von dem Land, mit dem sie so lange Zeit untrennbar verbunden gewesen waren. Und so zogen sie sich tief in die Wälder zurück, doch das genügte den Menschen nicht, sie nahmen ihnen die Lebensgrundlage, störten ihren Frieden. Und als die Raben von den Feldern nahmen, was sie im Wald nicht mehr finden konnten, begannen die Menschen sie zu jagen und zu töten. Ihre einst so unermessliche Zahl dezimierte sich und die friedlichen Vögel wurden zornig, denn die Erde bot genügend Raum und Nahrung für alle.
Und so kam es, dass der größte und stärkste von ihnen, in seiner Wut ein Kind der Menschen raubte. Er schleppte das Mädchen in den Wald, schändete ihren Körper, schlug seinen Schnabel in die Haut, fraß sich an ihrem Fleisch satt, betrank sich an ihrem Blut.
Das Leben des Kindes wich aus seinem Körper, es starrte den Peiniger mit seelenlosen Augen an. Und als der Rabe erkannte, was er getan hatte – was die Menschen aus ihm gemacht hatten -, gab er dem Mädchen seine Seele, seine ganze Lebenskraft und mit einem letzten, verzweifelten Kra hauchte er sein Leben neben dem geschundenen Körper aus.
Die anderen Raben, die stumm zugesehen hatten, packten das Kind und trugen es in die Menschensiedlung zurück, legten es auf der Schwelle ihres Vaters Schlosses ab und ergaben sich in ihr Schicksal.
Allen Verletzungen zum Trotz erholte sich das Mädchen schnell, fand zu neuer Kraft und in der Nacht der Wintersonnenwende gebar sie einen Sohn. Der Schrei des Königs hallte durch die zugigen Gänge des Schlosses, als er den Jungen zu Gesicht bekam. Er zog sein Schwert, setzte die Spitze auf die schmächtige Brust, die über und über mit schwarzen Federn bedeckt war, und schickte ein Gebet zu seinen Göttern, dass sie ihm die Kraft geben mochten, dieses Leben zu beenden, das kein Leben sein konnte. Doch die Götter des Königs schlossen ihre Augen und das Schwert fiel aus seinen zitternden Händen.“ Rokan räusperte sich und schenkte uns Wein nach.
Ich hatte mich nicht bewegt, solange Rokan gesprochen hatte und zog meine eingeschlafenen Beine unter mir hervor, massierte sie, bis sie zu kribbeln begannen.
Raben. Seit ich ins Dorf gelangt war, hatten sie mich verfolgt. Und hatten sie das nicht schon mein ganzes Leben lang getan? Rokan war einer von ihnen. Er hatte es mir zeigen wollen, bevor Chloé dazwischen gegangen war. Doch das war unmöglich. Das war ein Märchen, weiter nichts. Ich schüttelte langsam den Kopf.
Rokan lachte. „Du glaubst die Geschichte nicht. Ich kann fast hören, was hinter deiner Stirn vor sich geht.“
„Rokan, ich … Du willst mir einreden, dass du ein Rabe bist? Ein Nachfahre dieses Kindes?“
„Ich will dir gar nichts einreden, Cat, ich erzähle die Geschichte meiner Vorfahren. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Was ist aus dem Jungen geworden?“, fragte ich. „Hat er überlebt?“
„Der König verbannte seine Tochter zusammen mit ihrem Sohn in ein Zimmer am äußersten Ende des Schlosses. Nach und nach fielen die Federn von dem Kind ab und es unterschied sich nicht mehr von anderen Menschenkindern. Der König duldete den Jungen, aber er sah ihn niemals wieder an, er durfte das Schloss nicht verlassen und geriet in Vergessenheit. Nur die Alten erzählten noch manchmal die Geschichte der Geburt, doch schon bald glaubte keiner mehr daran. Es war nur noch eine Legende, ein Märchen, das in dunklen Neumondnächten den Dorfkindern Angst einjagte.
Als das Kind dreizehn Jahre alt wurde, starb der alte König, einsam und verbittert, ohne einen Erben zu hinterlassen. Als auch die Mutter des Kindes starb, lebte es, mittlerweile zum Mann herangewachsen, alleine in den Räumen des riesigen, baufälligen
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