Bedroht
1
Die Treppe geht über Eck, mit einem Absatz in dem spitzen Winkel. Erik hat eins seiner Seile über das Geländer im Obergeschoss geworfen und steht unten vor den beiden herabbaumelnden Enden.
Seine Mutter hält ein Weinglas in der Hand und beobachtet ihn.
»Was soll das?«
Sie ist betrunken, ihre Stimme klingt vorwurfsvoll.
»Du kannst hier nicht klettern. Das hält das Geländer nicht aus.«
Erik antwortet nicht.
»Hörst du, was ich sage? Du bist zu schwer.«
»Ich will nicht klettern.«
»Nimm das Seil da weg, Erik, bitte. Hör wenigstens einmal auf mich.«
Er verknotet das eine Seilende zu einer Schlinge.
»Nimm es sofort weg.«
Erik schaut hoch und hängt sich an das Seil.
»Du machst das Geländer kaputt.«
Seine Mutter stellt das Weinglas weg und geht auf ihn zu.
»Jetzt gehorchst du«, sagt sie und streckt die Hand nach dem Seil aus.
Erik packt ihren Arm und biegt ihn hinter ihrem Rücken hoch.
»Au! Was soll das? Lass los!«
Er zieht seiner Mutter die Schlinge über den Kopf und zieht sie hoch. Sie zerrt an der Schlinge, um sich zu befreien. Als das nicht funktioniert, strampelt sie mit den Beinen, um das Treppengeländer zu erreichen und nicht mit ihrem ganzen Gewicht in der Schlinge zu hängen. Erik umklammert ihre Waden und zieht sie nach unten, während er das andere Ende des Seils festhält.
»Wie alt war ich beim ersten Mal?«, sagt er.
Seine Mutter kann nicht antworten. Ihre Augen treten aus den Höhlen, das Gesicht ist rot aufgedunsen.
»Fünfzehn«, sagt er. »Zehn Jahre hast du es durchgezogen.«
Es knackt, möglicherweise ihr Genick oder das nachgebende Geländer.
Die Arme und Beine seiner Mutter zucken, dann gibt der Körper auf. Sie baumelt wie ein Pendel ohne jeden Widerstand hin und her. Erik hält das Seil weiter gespannt, als er die Treppe hochgeht, um es am Geländer festzuknoten. Danach setzt er sich auf die Couch und sieht fern. Als die Sendung zu Ende ist, ruft er die Polizei an, um ihnen mitzuteilen, dass seine Mutter sich aufgehängt habe. Dann nimmt er ein Messer und schneidet sie ab. Mit der Leiche auf dem Schoß kauert er auf dem Fußboden. Als die Polizei kommt, weint er.
2
Anna sah ihre Tochter an, die mit einem angebissenen Brot am Küchentisch saß und in ein Buch schaute.
»Beeil dich, Liebling. Papa fährt mich nach Mölle, und ich will nicht zu spät kommen.«
Hedda riss sich von ihrem Buch los und schaute auf die Küchenuhr.
»Aber dann komme ich zu früh.«
»Nein, tust du nicht.«
»Doch.«
»Höchstens zehn Minuten«, meinte Anna. »Das ist doch nicht schlimm. Dann kannst du die Hausaufgaben noch einmal durchgehen.«
»Nicht nötig«, erwiderte Hedda.
»Wenn du gefahren werden willst, musst du dich nach uns richten. So einfach ist das.«
»Dann nehme ich eben das Fahrrad.«
»Okay.«
»Wart mal, das geht nicht. Die Reifen sind nicht aufgepumpt.«
Lukas kam aus dem Schlafzimmer. Er knöpfte das Hemd zu. Es spannte über dem Bauch.
»Was?«, sagte er.
Anna schüttelte den Kopf.
»Nichts. Ich habe nur zu Hedda gesagt, dass sie sich ranhalten soll, wenn sie mitfahren will.«
»So eilig ist es doch nicht. Wir sind in einer Viertelstunde dort.«
»Genau«, meinte Hedda, die keine Ahnung hatte.
»Es dauert mindestens eine halbe Stunde«, sagte Anna.
Lukas runzelte die Stirn.
»Wirklich?«
»Ja. Bis Höganäs braucht man ja schon eine Viertelstunde.«
Lukas gab nach. Morgens war immer er der Nachgiebige. Abends waren die Rollen umgekehrt. Das war einer der Gründe, warum bei ihnen alles so gut funktionierte.
»Okay«, sagte er und wandte sich an Hedda. »Mädchen, hör jetzt auf Mama.«
»Schon gut.«
Hedda stöhnte übertrieben genervt und verließ mit dem Brot in der Hand den Tisch. Zehn Minuten später wurde sie vor der Schule abgesetzt.
»Dann bis morgen«, sagte Anna.
»Wieso? Übernachtest du da?«
»Nur eine Nacht. Morgen bin ich wieder zu Hause. Du kannst es dir heute Abend mit Papa gemütlich machen.«
»Ja, ja. Tschüs.«
»Tschüs, Liebling. Ich rufe dich dann an, um gute Nacht zu sagen.«
Hedda schlug die Autotür zu und ging auf die Schule zu. Amüsiert folgten sie ihr mit dem Blick, dann legte Lukas den ersten Gang ein und fuhr an.
Es war nicht viel Verkehr. Die meisten Autos waren in entgegengesetzter Richtung unterwegs, von den nördlichen Villenvororten an der Küste Richtung Helsingborg. Anna wechselte zu einem Nachrichtensender und schaute aufs Meer, das sich unterhalb von Christinelund ausbreitete.
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