Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
„Sie weigert sich mit dem … mit uns zu kommen.“ Er rieb sich über die Stirn. „Wir lassen sie hier“, sagte er dann mit fester Stimme.
Ich holte tief Luft, doch er schnitt mir das Wort ab, bevor ich auch nur eine Silbe gesagt hatte. „Wenn Rokan recht hat, dann haben wir vielleicht wirklich die Chance, etwas zu ändern. Und dann wird sich auch ihr Schicksal ändern.“ Seine Stimme klang tiefer, männlicher, als noch am Vortag. „Gehen wir“, fügte er hinzu.
„Komm schon, Cat.“ Rokan nahm meinen Arm und klopfte Jacques auf die Schulter. „Wenn wir in zwei Tagen immer noch nicht weitergekommen sind, werden wir nach ihr sehen. Bis dahin ist sie hier in Sicherheit.“
„Also gut“, sagte ich. „Zwei Tage.“
Im Schutz der Dämmerung schlugen wir uns in den Wald. Die Vögel des Tages erwachten und begleiteten unsere Schritte mit ihrem Gesang. Wir liefen schnell, folgten Rokan, der zielstrebig voranging.
„Wohin gehen wir eigentlich?“, fragte ich atemlos, als Rokan uns nach Stunden endlich eine Pause gönnte.
Ich ließ mich neben Jacques auf den Boden fallen. Er reichte mir die Wasserflasche und ich trank gierig, gab sie ihm mit einem Lächeln zurück und er wurde ein wenig rot.
Rokan war stehen geblieben und sah zu uns herab. Er schien überhaupt nicht müde zu werden. „Ich muss etwas herausfinden“, sagte er und lauschte mit angespannten Gesichtszügen in den Wald hinein. „Es muss hier irgendwo sein, wenn wir tatsächlich am Anfang angelangt sind. Erinnerst du dich, Jakur?“
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Manchmal glaube ich, ich erinnere mich, aber dann legt sich ein Nebelschleier über meine Gedanken und ich kann es nicht greifen.“ Seine Blicke wanderten über die Baumstämme, hoch in die Kronen der Buchen, Eichen und Erlen, die ein fast vollständig geschlossenes Dach über uns bildeten. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen fanden einen Weg durch die Blätter und malten dünne Linien ins Düster, das den Wald beherrschte. Jacques fing eine der Sonnenlinien mit der Hand auf und schloss die Augen. „Es ist warm und klar über dem Blätterdach“, flüsterte er. „Der Wind ist frei, wird durch nichts und niemanden aufgehalten. Und wir sind frei mit ihm. Ich glaube wir sind auf dem richtigen Weg.“ Seine Nasenflügel bebten. „Es riecht vertraut.“
„Vertraut? Vertraut. Die Zeit verrinnt, ein Haus gebaut, eins eingerissen, dem Feind um Mitternacht vertraut, dem Freund ins nackte Bein gebissen. Und in den Wipfeln spielt der Wind, mein Kind.“
Wir blieben stehen und versuchten die Herkunft der Stimme zu orten. Über unseren Köpfen raschelten die Blätter und ein Luftzug streifte meine Wange. Ich duckte mich und sah nach oben. Ein erneutes Rascheln ließ mich zur Seite hüpfen. Der Holunderbusch zu meiner Rechten schüttelte sich wie ein nasser Pudel. Ich griff nach Jacques Hand und Rokan lachte laut auf.
„Ich wusste, dass wir uns auf dem rechten Weg befinden“, sagte er und griff in den Busch, wühlte darin herum und zog ein zappelndes Bündel hervor.
„Du Rotzlöffel! Setz mich auf den Boden oder ich reiße dir alle Federn einzeln aus!“
Das Männchen keifte noch weiter Zeter und Mordio, aber ich konnte mich nicht auf seine Worte konzentrieren, gebannt betrachtete ich das alte Gesicht, das von einer gigantischen Knollnase dominiert wurde. Rokan hielt es an einem Bein kopfüber in die Luft, so dass sein langer Zopf den Boden berührte.
„Ein Baumgeist“, entfuhr es mir und ich schlug mir erschrocken die Hand vor den Mund.
Das Männchen hatte aufgehört zu strampeln und zu schimpfen und sah mich jetzt durchdringend an. „Sie gehört nicht hierher“, sagte es. „Deine Mutter wird dir die Hammelbeine lang ziehen, Rokan.“ Dann lachte es und es klang wie Blätterrauschen. „Das hätte sie wohl öfter tun sollen.“ Es schlug sich trotz seiner misslichen Lage auf die Schenkel uns lief puterrot an. „Lang ziehen, versteht ihr?“ Dann verschluckte es sich und hustete. „Lass mich los, lass mich los, du Tölpel!“
Rokan öffnete seine Hand und das Männchen landete unsanft auf dem Boden. Ächzend stand es auf, staubte sich die Kleider ab und ordnete seinen Pferdeschwanz, der sich bei dem Sturz aufgelöst hatte.
Ich beobachtete, wie es den Sitz der Messerscheide überprüfte, die an seinem rechten Unterschenkel befestigt war, den Gürtel um seine Hüften enger schnallte und das Lederwams über seinem Kugelbauch zurechtzupfte. Als es damit
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