Cotton Malone 05 - Der Korse
hatte den Verlust eher als Einsamkeit denn als Schmerz empfunden. Mit Thorvaldsens Tod war es anders. Der Schmerz war gnadenlos und füllte sein Herz mit tiefer Trauer.
Sie hatten Henrik in einem privaten Gottesdienst an der Seite seiner Frau und seines Sohnes begraben. In einer handschriftlichen Notiz, die seinem Testament beigefügt war, hatte Thorvaldsen ausdrücklich festgehalten, dass er keine öffentliche Bestattung wünschte. Doch sein Tod war weltweit in den Nachrichten gekommen, und Beileidsbekundungen strömten waschkorbweise herein. Von den Angestellten seiner verschiedenen Gesellschaften trafen Tausende von Karten und Briefen ein, was deutlich zeigte, wie sehr sie ihren Arbeitgeber verehrt hatten. Cassiopeia Vitt war gekommen. Ebenso Meagan Morrison. Ihr Gesicht war noch immer zerschlagen, und sie, Malone, Cassiopeia, Stephanie, Sam und Jesper hatten das Grab mit dem schlichten Kiefernsarg in vollkommenem Schweigen zugeschaufelt.
In den letzten Tagen hatte Malone sich in seiner Einsamkeit vergraben und an die vergangenen zwei Jahre zurückgedacht. Seine Gefühle hatten ihn um- und umgetrieben, und er hatte ständig zwischen Traum und Realität geschwankt. Thorvaldsens Gesicht war unauslöschlich in sein Gedächtnis eingegraben, und er würde sich für immer bis ins kleinste Detail daran erinnern – die dunklen Augen unter den buschigen Augenbrauen, die gerade Nase, die geblähten Nasenlöcher und das energische Kinn. Was spielte das verkrümmte Rückgrat schon für eine Rolle? Das bedeutete gar nichts. Dieser Mann hatte immer gerade und aufrecht gestanden.
Malone blickte sich in dem hohen Kirchenschiff um. Bildhauerkunst und Architektur erzeugten einen überwältigenden Eindruck gelassener Heiterkeit, und die Kirche glühte vom strahlenden Licht, das durch die Buntglasfenster hereinströmte. Er bewunderte die verschiedenen Heiligengestalten, die in dunkles, mit türkisblauen Lichttupfern besetztes Saphirblau gewandet waren – die sorgfältig behauenen Köpfe und Hände lösten sich aus sepiabraunen Schatten und ragten olivgrün, rosa und schließlich weiß heraus. Da musste man einfach an Gott denken, an die Schönheit der Natur und an Verstorbene, die zu früh gegangen waren.
Wie Henrik.
Doch Malone ermahnte sich, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.
Er holte den Zettel aus seiner Manteltasche und entfaltete ihn.
CXXXV II CXLII LII LXIII XVII
II VIII IV VIII IX II
Professor Murad hatte ihm genau gesagt, wonach er suchen sollte, und ihm die Hinweise erläutert, die Napoleon ausgeklügelt und dann seinem Sohn hinterlassen hatte. Malone begann mit Psalm 135, Vers 2. Die ihr steht im Hause des Herrn, in den Vorhäfen am Haus unsres Gottes.
Dann Psalm 2, Vers 8. Ich gebe dir die Völker zum Erbe.
Typisch napoleonischer Größenwahn.
Als Nächstes kam Psalm 142, Vers 4. Ich blicke nach rechts und schaue aus.
Der genaue Ausgangspunkt – von dem aus man nach rechts blicken und ausschauen sollte – war schwierig zu bestimmen gewesen. Saint-Denis war riesig, so lang wie ein Fußballfeld und beinahe halb so breit. Aber der nächste Vers löste dieses Problem. Psalm 52, Vers 8: Ich aber bin im Haus Gottes wie ein grünender Ölbaum .
Murads kurze Lektion über Psalmen hatte Malone an einen Psalm denken lassen, der die vergangene Woche mehr als angemessen beschrieb. Psalm 144, Vers 4. Der Mensch gleicht einem Hauch, seine Tage sind wie ein flüchtiger Schatten. Malone hoffte, dass Henrik Frieden gefunden hatte.
Ich aber bin im Haus Gottes wie ein grünender Ölbaum.
Er blickte nach rechts und sah ein Grabmonument. Es war eine gotische Arbeit und bildete Elemente eines alten Tempels ab, auf dessen oberster Plattform betende Gestalten knieten. Zwei steinerne Statuen der Toten, dargestellt in den letzten Momenten ihres Lebens, lagen flach auf dem Grabmal. Der Sockel war mit italienisch inspirierten Reliefs verziert.
Malone trat näher, mit seinen Gummisohlen an den Schuhen ging er sicher und leise. Im Boden unmittelbar rechts von dem Monument erblickte er eine Grabplatte aus Marmor, in die ein einzelner Olivenbaum eingraviert war. Ein Schild erklärte, dass das Grab aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammte. Charles VII. hatte seinen Diener so geliebt, dass er ihm die Ehre einer Bestattung in Saint-Denis gewährte.
Als Nächstes kam Psalm 63, Vers 9. Viele trachten mir ohne Grund nach dem Leben, aber sie müssen hinabfahren in die Tiefen der Erde. Man gibt sie der Gewalt des Schwertes preis,
Weitere Kostenlose Bücher