Zarias Geheimnis
Als ich neun Jahre alt war, verschwanden meine Eltern spurlos.
Anfangs glaubte ich noch, dass sie jeden Augenblick nach Hause kommen würden. Sie hatten sich schließlich nur auf die Suche nach meinem älteren Bruder Jett gemacht. Das war nichts Ungewöhnliches. Jett geriet ständig in irgendwelche Schwierigkeiten, auch wenn ich nie so recht wusste, was für Schwierigkeiten es waren. Und natürlich war ich die Letzte, der er erzählte, wohin er ging oder warum.
Es war nicht das erste Mal, dass sich meine Lehrerin Beryl Danburit um mich kümmerte. Meine Eltern wandten sich immer an sie, wenn sie länger als ein paar Stunden unterwegs waren. Ich war nicht gerne in der Obhut meiner Lehrerin, aber nach meiner Meinung fragte niemand. Einmal blieb sie eine ganze Woche.
Dieses Mal blieb sie für immer.
Am Tag, als ich erfuhr, dass meine Eltern nicht zurückkommen würden, saß ich auf einem Eckhochsitz und las das einzige Buch, das meine Familie von der Erde besaß. Es war ein Buch über Bäume. Ich sah mir gerne die Hochglanzbilder an und prägte mir die Formen der Blätter ein.
Beryl Danburit hielt nichts davon. Jedes Mal, wenn sie mich darin lesen sah, schärfte sie mir ein, dass die Erde ein gefährlicher Ort und die Menschen rätselhafte Wesen seien. Aber sie sagte mir nie, ich solle das Buch weglegen.
Ich betrachtete gerade die Abbildung einer Blaufichte, als es laut an unserer Haustür klopfte. Ich legte das Buch beiseite und flog mit zitternden Flügeln zur Tür, um zu öffnen.
Vor mir stand ein mir unbekannter sehniger Elf mit Augen wie Granatsteinen, die über einer Knollennase hervorschauten. Er hatte orangefarbene Haut mit goldenen Flecken, und sein Haar hatte die Farbe von angelaufenem Messing. Am Handgelenk trug er einen riesigen Rubin.
»Guten Abend«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich bin Ratsmitglied Wolframit. Bist du Zaria Turmalin?«
Ich nickte.
»Darf ich reinkommen?«
Für einen kurzen Augenblick dachte ich darüber nach, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Wenn ich ihn nicht hineinließ, mussten auch die Nachrichten, die er brachte, draußen bleiben, oder? Ich fürchtete, dass nur schlechte Nachrichten ein Ratsmitglied zu uns führen würden.
»Zaria?«, rief Beryl Danburit. »Wer ist da?«
Ich konnte mich nicht dazu bringen, seinen Namen auszusprechen, obwohl ich mich durchaus an ihn erinnerte.
Kurz darauf kam Beryl Danburit herbeigeeilt. Als sie Wolframit erblickte, erzitterten ihre orangefarbenen Flügel wie die eines verängstigten Kindes. Ich hatte sie noch nie die Kontrolle über ihre Flügel verlieren sehen.
»Guten Abend«, sagte er noch einmal.
»Guten Abend, Ratsmitglied.«
»Ich bin hier, um mit Ihnen über Zaria zu sprechen.« Er sah flüchtig zu mir hinunter, wandte sich daraufhin aber nur noch an Beryl Danburit. »Es tut mir leid«, fuhr er fort, »aber man hat ihre Eltern für indeterminum detu erklärt.«
Auch wenn ich noch sehr jung war, kannte ich die Bedeutung dieser Wendung aus der alten Sprache. Für immer verschwunden. In meinem Herzen öffnete sich ein Fenster zur Nacht. Dunkel, sternenlos und eisig kalt.
»Wir glauben, dass sie von Menschen gefangen genommen wurden«, erklärte Ratsmitglied Wolframit weiter. »Man hat sie das letzte Mal gesehen, als sie durch ein Portal zur Erde gingen.«
»Aber sie …«, sagte ich.
»Sie sind jetzt seit einem Monat verschwunden. Und wir müssen eine Entscheidung bezüglich ihrer Tochter treffen.« Er berührte den Rubin an seinem Handgelenk. Mir fiel auf, dass er mit dem Emblem einer Krone geprägt war. »Beryl Danburit, wären Sie bereit, sie in Ihre Obhut zu nehmen?«
»Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte sie.
»Zarias Eltern haben Sie im Falle ihres Todes zu ihrem Vormund bestimmt«, erklärte er.
Ich sah zu meiner Lehrerin und wartete darauf, dass sie sagte, es müsse sich um einen Irrtum handeln, meine Eltern seien bestimmt irgendwo aufgehalten worden, aber keinesfalls tot. Aber sie schwieg.
Das Ratsmitglied runzelte die Stirn. »Beryl Danburit?«
»Hat sie keine anderen Angehörigen?«, fragte sie.
»Zaria hat keine nahen Verwandten«, erwiderte Ratsmitglied Wolframit. »Das Schicksal hat ihre Familie besonders hart getroffen.«
Beryl Danburits hellgelbe Augen blitzten kurz auf und füllten sich mit Tränen. Eine ganze Weile stand sie schweigend und mit zuckendem Mund da.
»Ihre Eltern haben Sie bestimmt«, sagte der alte Elf. »Vielleicht weil Sie keine eigenen Kinder haben?«
Sie hob die Stimme
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