Cotton Reloaded - Folge 1 - Der Beginn
deiner Familie. Im Schutt mit ihnen vereint.
Aber was hilft’s, du bist eben nicht gestorben.
Irgendwann geht das Licht wieder an, die Sonne flutet in die Kaverne, die sich wie durch ein Wunder über dir gebildet und dich geschützt hat. Nur dich. Ein staubiges Gesicht unter einem Bauhelm blickt zu dir herab und ruft: »Scheiße, das glaub ich nicht! Ein Wunder! Da lebt noch einer! Ein Junge!«
Sie ziehen dich raus, ein staubbedecktes, halb verdurstetes, geblendetes Gespenst mit gebrochenen Beinen. Einer der Feuerwehrleute sagt erschüttert: »Junge, sag was. Ich flehe dich an, sag was!«
Aber dein Mund ist völlig ausgetrocknet vom Staub. Erst als sie dir endlich Wasser geben, geht es.
»Wie heißt du, Junge?«, fragt der Feuerwehrmann erneut. »Sag mir deinen Namen.«
Und du sagst: »Cotton … Jeremiah Cotton.«
11 Jahre später
»Was sagst du dazu, Cotton? Stimmt’s oder hab ich recht?« Joe Brandenburg wartete die Antwort gar nicht erst ab und schwadronierte munter weiter. »Ich sehe das so, Cotton … eh, hörst du mir überhaupt zu? Also, ich sehe das so: Wenn der Chief mir immer die ganze Drecksarbeit aufbrummt, muss er sich nicht wundern, wenn sein bester Mann sich nebenbei woanders schadlos hält. Verstehst du? Bisschen was nebenbei laufen hat. Ist doch nur fair, oder? Jeder muss sehen, wo er bleibt. Wir können jeden Tag von irgendeinem cracksüchtigen Arschloch abgeknallt werden. Muss ich dir ja nicht erzählen. Darum heißt es: Der kluge Mann baut vor und schafft den Absprung, bevor es zu spät ist. Ich bin jedenfalls nicht scharf drauf, bis zur Rente Streife zu fahren. Wenn ich das schon höre: Rente! Erleben wir ja doch nicht. Wir sind das Papier, mit dem sich die Gesellschaft den Arsch abwischt, ist doch so. Eh, Partner, verdammt, pennst du oder was?«
Cotton tat so, als konzentriere er sich auf den Verkehr, während er in die Bayard Street einbog. Er kannte Joe Brandenburgs Leier auswendig.
»Eines werden wir jedenfalls niemals erleben, Joe«, sagte Cotton.
»Und was?«
»Dass du mal für eine Minute die Schnauze hältst.«
Brandenburg griente ihn an. »Hast du Interesse, ein paar Scheinchen nebenher zu machen, Partner? Yuki hat noch eine Freundin. Eine ganz süße.«
»Verpiss dich, Joe.«
»Verpiss dich selbst, Jerry.«
»Du sollst mich nicht Jerry nennen. Nenn mich niemals Jerry, hörst du!«
»Wieso eigentlich? Jerry ist doch ein geiler Name … Jedenfalls, wenn man aus Iowa kommt. Was hast du für ein Problem mit Jerry, Jerry?«
Cotton ging nicht weiter darauf ein. Das Jerry-Spiel gehörte zur Routine der nächtlichen Streifenfahrten.
»Du bist ein Spießer, Cotton, ein verdammter Spießer und Korinthenkacker, weißt du das? Du solltest dich geehrt fühlen. Weißt du, warum ich dir das überhaupt anbiete?«
»Weil ich weiß und nicht schwul bin?«
»Weil du ein verdammter Redneck bist, Cotton. Genau wie ich. Ein echter Proll.«
»Ich bin nicht wie du, Joe.«
»Nee, ist klar. Du bist natürlich was Besseres, Cotton. Leck mich.«
So ging das nun schon seit Stunden. Jeden Tag, es hörte nie auf. Joe Brandenburg war ein ewig sprudelnder Born von Nörgeleien, sexistischen Zoten, Schwulenwitzen, Vorurteilen, Gewaltfantasien, kruden Rassentheorien und garantiert risikolosen Geschäftsideen, der wie die Niagarafälle bis in alle Ewigkeit über Cotton herabbrandete. Jedenfalls, solange er mit Brandenburg auf Streife fahren würde.
Aber das ließ sich ebenso wenig ändern wie das Wetter, und das Wetter wurde vom Chief gemacht. Zu Anfang hatte Cotton noch überlegt, Brandenburg wegen seiner schmutzigen kleinen Deals auffliegen zu lassen. Aber Partner war Partner, und man scheißt seinen Partner nicht an, alte Regel. Also blieb Cotton nichts anderes übrig, als Joes Sermon irgendwie über sich ergehen zu lassen.
Joe Brandenburg mochte ein korruptes Arschloch sein, aber davon abgesehen war er in Ordnung. Man konnte sich auf ihn verlassen. Wenigstens das.
Cotton war inzwischen seit fünf Jahren beim NYPD. Es war eine klare Entscheidung gewesen, obwohl Sarah unermüdlich versucht hatte, es ihm auszureden. Er solle doch studieren, Arzt oder Anwalt werden bei seinen Fähigkeiten, und sein Talent nicht als Cop vergeuden, und so weiter.
Aber Cotton war stur geblieben.
An dem Tag im September, an dem »Jerry« gestorben war, hatte er beschlossen, Polizist zu werden. Das hatte er sich in den dunklen, endlosen Stunden unter dem Schutt des World Trade Centers überlegt. Rette mich, Gott,
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