Cotton Reloaded - Folge 1: Der Beginn
Hinter dem Komplex der internationalen Schule, am Ende des Piers, erwischst du ihn an der Kapuze und reißt ihn zu Boden. Du denkst noch, dass er ein Messer haben könnte, aber er hat keins. Er wehrt sich, tritt nach dir, hat aber keine Chance, denn du bist ein kräftiger Bursche. Wie ein Berserker drischt du auf ihn ein, schreist irgendwas, bis er die Geldbörse endlich loslässt. Erst dann lässt du ihn ebenfalls los.
In diesem Moment siehst du zum ersten Mal sein Gesicht. Du siehst die Angst in seinen Augen und irgendwo tief dahinter einen Kummer, der dich plötzlich lähmt. Er ist nicht viel älter als du - wohl aber der Kummer, den du in seinen Augen siehst. Für einen Moment steht die Welt still, alles ist ruhig. Ihr rennt nicht mehr, steht nur keuchend voreinander.
»Wie heißt du?«, fragst du schließlich und wunderst dich über dich selbst.
»Raschid«, sagt er.
Dann hat der Wachmann euch erreicht und zieht einen Taser.
Raschid macht sich aus dem Staub. Du nicht. Du bleibst stehen. Der East River blinzelt dir in der Morgensonne entgegen, und du kriegst kaum mit, dass der Wachmann dich hart am Arm packt und dich etwas fragt.
»Was?«
»Deinen Namen, Junge!«
Du murmelst deinen Namen und zeigst dem Wachmann die Geldbörse, die du dir zurückgeholt hast. Er glaubt dir erst nicht und will dich den Cops übergeben, aber als du ihm den genauen Betrag in der Geldbörse nennen kannst und ihm das Foto von dir und Meg zeigst, das zwischen den Scheinen steckt, glaubt er dir doch.
»Du bist vom Union Square bis hier rüber gerannt?«
»Ja.«
»Nicht schlecht, Junge. Du lässt nicht so schnell locker, was?«
»Kann man so sagen.«
Er scheint zu überlegen, ob du ihn verarschst, aber dann lässt er dich laufen. Und du denkst: Mann, das ist der beste Tag meines Lebens.
So kann man sich irren.
Es ist Viertel nach acht. Du solltest jetzt deine Eltern anrufen, aber du hast kein Handy, und ohnehin sind sie bereits unterwegs. Heute ist der große Tag, heute zeigt Super-Laura ihnen ihr tolles Büro. Aber weil du jetzt dein Geld zurückhast und weil heute ja der beste Tag deines Lebens ist, willst du es nicht übertreiben. Also machst du dich auf den Weg, um sie zu treffen.
Du nimmst den Z-Train vom East River Park bis zur Fulton Street und gehst den Rest zu Fuß. Manhattan zwinkert dir zu, du hast die Prüfung bestanden. Die Stadt schnurrt dich an, sie gehört jetzt dir. Du denkst noch kurz an Raschid und den Schmerz in seinen Augen, dann wünschst du ihn zum Teufel.
Um kurz nach halb neun durchquerst du die Lobby des Nordturms der Twin Towers und reihst dich in die Schlange vor den Fahrstühlen ein. Alle fünf Meter steht ein Schwarzer und zeigt dir, wo du langgehen musst, dabei ist doch eh alles mit gelbem Absperrband markiert.
Brodmann & Campbell belegen die gesamte 94. Etage des Nordturms. Oben wirst du dich durchfragen müssen. Es gibt verschiedene Fahrstühle. Einige fahren ganz rauf, andere nicht. Die Schlange vor dem Direktfahrstuhl ist lang, und der verdammte Lift lässt sich Zeit. Aber Zeit hast du eben nicht, nicht heute Morgen. Du platzt fast vor Hochgefühl, willst deinen Triumph teilen, ihn hinausposaunen.
Und du willst dich bei Dad entschuldigen. Du willst keinen Streit mehr, nicht heute.
Also scherst du aus der Schlange aus und nimmst den Expressfahrstuhl zur Skylobby im 44. Stock. Dort willst du umsteigen und dann weiter rauf in den 94. zu Laura, Mum und Dad.
Aber so weit kommst du nicht mehr.
Als du im 44. Stock aussteigst, schlägt Flug AA 11 hoch über dir zwischen dem 93. und 99. Stock ein und tötet deine Eltern und deine Schwester auf der Stelle. Aber das weißt du in diesem Moment noch nicht. Du hörst nur die Explosion über dir, die wie ein Donnerschlag durch den Nordturm wettert und ihn zum Schwingen bringt wie eine gigantische Glocke. Die Leute in den Fluren schreien und kreischen und versuchen zu begreifen, was passiert ist.
Und du rennst wieder los, denn eines ist dir klar: Was immer das war, es kam von oben, wo gerade deine Eltern und deine Schwester sind. Du rennst durch den Flur in die Skylobby und siehst Rauch, sehr viel Rauch, viel zu viel Rauch. Und Gebäudeteile, die draußen beinahe schwerelos durch die Luft wirbeln. Wie ein Irrer stürmst du ins Treppenhaus, wo dir von oben schon die ersten Leute entgegenkommen, die auf der Flucht sind, Panik und Entsetzen in den Augen. Eine vernünftige Antwort auf die Frage, was denn eigentlich passiert sei, bekommst du in dem
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