CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
bleiben, musste weg hier, irgendwohin. Hätte er nach Hause rennen können, zu
sich
nach Hause, hätte er es getan, egal wie viele Hundert Kilometer. Den Zug nach London nehmen, sich auf der Toilette verstecken, weil er kein Geld für einen Fahrschein hatte. Per Anhalter fahren. Was auch immer. Er griff sich seine Schuhe – Flips Schuhe – aus dem Schuhregal in der Diele, setzte sich auf die unterste Treppenstufe und zog sie an. Sobald er draußen war, würde er einfach weiterlaufen, wenn nötig die ganze Nacht hindurch. Ihm doch egal.
Da erschien Flips Mum. »Ah, da bist du ja.« Sie trug einen knallroten Kimono mit einem aufgestickten goldenen Drachen. »In einer halben Stunde gibt’s Essen. Bleib also nicht zu lange mit Beags weg, ja?«
»Wie bitte?«
»Ich hol dir eine Tüte.«
Sie verschwand wieder nach unten in die Küche. Alex sah, dass an einem Schlüsselhaken neben der Haustür eine Leine hing. Führte Flip etwa jeden Abend den Hund aus? Die Frau kam mit einer Plastiktüte (für die Hundekacke?) zurück.
Er musste das nicht machen. Er war nicht Flip. Beagle war nicht sein Hund. Wenn er wollte, konnte Alex einfachzur Tür hinaus und überall hingehen, wohin er wollte.
»Deine Schwester!« Die Frau verdrehte die Augen in Richtung Decke. Die schräge Musik hämmerte immer noch mit wummerndem Beat durchs ganze Haus. »Ein Wunder, dass ihr noch nicht das Trommelfell geplatzt ist.« Dann lächelte sie Alex an. »Wie war’s in der Schule?«
»Ach, äh, wie immer.«
»Hast du Hausaufgaben gemacht?«
»Ja, ja. Ja.« Alex gestikulierte nach oben. »Ich komme grade von …«
Wieder das Lächeln. Sie wollte gar nicht mehr erfahren. »Nach dem Essen, Philip, ja?«
Sie war besser gelaunt als am Morgen. Sie roch nach Zwiebeln und, ganz schwach, nach etwas anderem. Wein. Wieder kam ihm der Gedanke, dass er sich einfach umdrehen und weggehen konnte. Einfach davongehen. Aber als er ihr ins Gesicht sah, brachte er es nicht fertig. Auch wenn sie nicht
seine
Mutter war, so war sie doch eine
Mutter.
»Ich …« Er räusperte sich. »Es tut mir leid.«
Die Frau sah ihn verwundert an. »Was denn?«
»Wegen heute Morgen.«
»Ach.« Sie wirkte noch erstaunter. »Na ja, morgens ist halt immer ein bisschen Stress.«
»Nein«, sagte Alex. »Es war nicht in Ordnung. Wie ich mich verhalten habe. Und was ich gesagt habe.«
Ganz kurz dachte er, Flips Mum würde gleich in Tränenausbrechen, aber so weit kam es nicht. Sie drückte flüchtig seinen Arm und kniff ihn in die Wange. Wein, eindeutig. Rotwein. »Jetzt aber los«, sagte sie, »sonst kriegst du ihn erst zur Tür raus, wenn ihr schon längst wieder zurück sein sollt.«
Alex nahm die Leine vom Haken. »Wo ist Beagle überhaupt?«
»Wahrscheinlich im Wohnzimmer und schaut Tennis.«
»Tennis?«
»Erster Tag Wimbledon«, antwortete die Frau, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Tatsächlich lag der Hund zusammengerollt auf einem Sessel, starrte gebannt auf den Bildschirm und folgte dem hin- und herfliegenden Ball mit den Augen. Als einer der Spieler eine Rückhand ins Netz jagte, jaulte der Hund auf, als wäre er enttäuscht.
Alex schlenkerte mit der Leine, ließ sie leise klingeln. »Komm, wir gehen Gassi.« Der Hund hob den Kopf vom Kissen und knurrte. »Beißt du mich jetzt, wenn ich die Leine einhake?«
Beagle zwickte ihn tatsächlich ein wenig, aber Alex legte ihm die Leine trotzdem an. Dann führte und zog er ihn mit einiger Mühe aus dem Haus. Auch als sie beide nebeneinander die Straße entlanggingen, hörte der Hund nicht auf zu knurren.
Du weißt es, stimmt’s? Du bist der Einzige, der gemerkt hat, dass ich nicht Flip bin.
»Wo geht ihr denn normalerweise lang, Beags?«
Der Hund warf ihm einen schiefen Blick zu, als wollte er sagen:
Was geht dich das an?
Alex führte ihn kreuz und quer durch die Straßen. Ungefähr nach einer Viertelstunde kamen sie gegenüber vom Bahnhof auf der Hauptstraße heraus. Eine Gruppe Jugendlicher, Jungen und Mädchen, bevölkerte den kleinen Platz mit der Bank, auf der Johannsen Alex am Morgen aufgegabelt hatte. Vor neun Stunden. Es kam Alex eher wie neun Tage vor, so viel war seither passiert. Müsste er welche von den Jugendlichen kennen oder würden sie ihn vielleicht sogar rufen? Nein. Sie beobachteten ihn, das war alles. Alex passte auf, dass er niemanden direkt anschaute. In Crokeham Hill bestand immer die Möglichkeit, dass eine Situation wie diese kippte, in Litchbury hielt er
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