Crazy Moon
aus: knochige Ellbogen, ein hervorstehendes Schlüsselbein, eine scharf hervorstechende Nase.
»Sie ist kein schlechter Mensch«, meinte sie, als hätte ich das Gegenteil behauptet. »Sie kann nur manchmal eine richtige Zicke sein. Mark sagt immer, sie ist freundschaftsbehindert.«
»Mark?«
»Mein Verlobter.« Lächelnd streckte sie mir ihre rechte Hand entgegen. Der winzige Diamant funkelte.
Aus dem kleinen Haus erklang plötzlich laute Musik. Hinter den Fenstern gingen Lichter an und ich erhaschte einen Blick auf Isabel.
»Warum gibst du dich dann mit ihr ab?«, fragte ich.
Morgan blickte zum Haus hinüber. Es war Gute-Laune-Musik, schnell und wild. Isabel tanzte dazu. Sie hielt eine Bierdose in der Hand und groovte am Fenster vorbei. Ihre Haare flogen, ihre Hüften bewegten sich geschmeidig im Rhythmus. Morgan lächelte.
»Hauptsächlich, weil sie so ungefähr der einzige Mensch auf der Welt ist, den ich habe.« Und damit ging sie die Stufen hinunter und den Pfad entlang, der durch den Garten zu dem kleinen Haus führte. Auf der Veranda drehte sie sich um und winkte mir zu.
»Bis bald«, rief sie.
|42| »Okay.«
Sie öffnete die Haustür. Musik drang heraus, heftig pulsierend, eine jaulende Frauenstimme. Disco. Und als Morgan ins Haus trat, sah ich, wie Isabel grinsend vorbeiwirbelte, Morgan am Arm fasste und mit sich in das warme Licht zog. Dann fiel die Tür ins Schloss.
|43| 3
Als ich am nächsten Morgen ins Badezimmer kam, um mir die Zähne zu putzen, bemerkte ich das Karteikärtchen über dem Waschbecken.
RECHTER HAHN TROPFT stand darauf und BITTE MIT SCHRAUBENSCHLÜSSEL FEST ZUDREHEN. Ein gezeichneter Pfeil wies auf einen kleinen Schraubenschlüssel, der mit leuchtend rotem Band am Wasserrohr befestigt war.
Voll durchgeknallt,
dachte ich.
Aber das war längst nicht alles. Über der Seifenschale in der Dusche stand BITTE VORSICHT! HEISSES WASSER SEHR HEISS. Und über der Toilette: GRIFF IST LOSE – NICHT ABREISSEN. (Als ob mir das im Traum eingefallen wäre.) Der Deckenventilator war ganz klar KAPUTT, die Fliesen an der Tür LOSE, so dass ich VORSICHTIG GEHEN musste. Außerdem wurde ich per Karteikärtchen informiert, dass das Licht über dem Spiegelschrank FUNKTIONIERT, ABER NUR MANCHMAL. Sehr mysteriös.
Die Schilder waren im ganzen Haus verteilt. Immer wieder stieß ich auf eines, wie die Brotkrumen im Märchen führten sie mich von Ort zu Ort. Fenster waren DURCH FARBE VERKLEBT, Treppengeländer LOCKER, |44| Stühle hatten EIN ZU KURZES BEIN. Ich kam mir vor wie in einem seltsamen Spiel, war verunsichert, fühlte mich unbehaglich und wünschte mir, wenigstens ein Gegenstand wäre neu genug, um normal zu funktionieren. Ich fragte mich, wie jemand überhaupt so leben konnte, aber ganz offensichtlich war Mira eben nicht einfach irgendjemand.
Ich besuchte sie zum ersten Mal in Colby und wusste bloß, dass sie zwei Jahre älter war als meine Mutter, unverheiratet und alles Geld meiner Großeltern geerbt hatte. Außerdem hatte ich gewusst, dass sie genauso fett war wie wir. In den ersten Jahren unseres Zigeunerlebens, als wir mit unserem Kombi kreuz und quer durchs Land fuhren, hatten wir sie ein paar Mal besucht. Aber das Einzige, woran ich mich noch erinnern konnte, waren die Doughnuts, die sie aus Fertigbackmischungen zubereitete, in die Fritteuse warf und anschließend in einer Zimt-Zucker-Mischung wälzte. In meiner Erinnerung tat sie nichts anderes als ständig zu kochen oder zu essen.
Als meine Mutter abnahm, war es so, als habe sie sich zu einem neuen Glauben bekehrt und wolle ihre frisch gewonnenen Erkenntnisse an jeden anderen Menschen weitergeben: zuerst an mich, dann an die Scharen von Frauen, die in ihre Aerobic-Klassen strömten, schließlich an den Rest der freien westlichen Welt. Sie war eine Missionarin und ihre Religion hieß Abnehmen. Aber Mira hatte sie eindeutig nicht dazu bekehren können, denn in dem Schrank in meinem Zimmer türmten sich sämtliche Kiki-Produkte, die jemals entwickelt worden waren, ordentlich aufeinander gestapelt und alle noch in ihren Originalverpackungen. (Ich legte meine dazu.) Außerdem machte Mira sich noch immer Doughnuts zum Frühstück. |45| Sie aß fünf Stück hintereinander, plopp plopp plopp plopp plopp. Dabei leckte sie sich die Finger und gluckste auf ihre typische Art vergnügt vor sich hin.
Mira war der Liebling meiner Großeltern gewesen: Ihr Leben ließ sich viel versprechend an. Sie besuchte eine angesehene Kunstschule
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