Crazy Moon
als zehn Jahren entstanden.«
»Machst du nur Todeskarten?«
»Ursprünglich habe ich alles Mögliche produziert, das übliche Repertoire.« In einer alten Konservendose auf ihrem Zeichentisch standen Filzschreiber, die sie beim Sprechen zu ordnen begann. »Für Geburtstage, Valentinstag und so weiter. Doch in den Achtzigern landete ich plötzlich einen Riesenhit, und zwar mit den Nonni-Karten.«
»Moment.« Der Name kam mir bekannt vor. »Von denen habe ich schon mal gehört.«
Lächelnd zog sie etwas unter ihrem Zeichentisch hervor. Noch eine Karte. »Ja, mit der Kleinen hier fing alles an. Durch Nonni wurde ich eine gefragte Kartenzeichnerin.«
Ich erkannte es sofort wieder, das kleine Mädchen im Matrosenkleidchen, das die hochhackigen Schuhe seiner Mutter trug. Nach Kater Garfield war sie der nächste große Star unter den Motiven für Grußkarten gewesen. Mir fiel plötzlich wieder ein, wie ich meine Mutter an der Tankstelle einmal angebettelt hatte mir eine Nonni-Puppe zu kaufen, obwohl ich wusste, dass wir es uns unmöglich leisten konnten. »Ist ja ’n Ding.« Ich blickte von der Karte auf und sah Mira an: »Ich hatte keine Ahnung, dass sie von dir stammt.«
»Tja.« Liebevoll lächelte sie die Karte an. »Und sie war sehr erfolgreich. Aber nachdem der ganze Hype vorbei war, hatte ich Lust, etwas anderes zu machen. Und Todesfälle haben mich schon immer interessiert. Außerdem |49| hatte sich bis dahin niemand wirklich damit beschäftigt, jedenfalls nicht so wie ich jetzt.«
Während sie sprach, starrte ich auf die vielen Schachteln, die im Regal übereinander standen. Ein ganzes Leben voller Tod. »Gehen dir nicht irgendwann die Ideen aus?«
»Eigentlich nicht.« Ihr Fuß in blauem Plüsch wippte auf und ab. »Du würdest dich wundern, auf wie viele Weisen man sein Beileid aussprechen und sagen kann, dass man mit jemandem mitfühlt. Ich habe noch längst nicht alle ausprobiert.«
»Trotzdem – das sind ziemlich viele tote Briefträger.«
Überrascht riss sie die Augen auf. Dann lachte sie, ein einzelnes, lautes Ha! Ein Filzschreiber löste sich aus ihrem Haar und fiel auf den Boden: klack. Sie achtete nicht darauf. »Du hast Recht.« Sie ließ ihren Blick ebenfalls über die Regale wandern. »Sehr viele.«
Kater Norman schleppte sich aufs Fensterbrett und breitete sich in seiner ganzen massigen Fülle dort aus. Vor dem Fenster schaukelte Miras Vogelhäuschensammlung im Wind. Auf jeder Stange hockten mehrere Vögel. Kater Norman hob eine Pfote und tappte damit ans Fenster. Dann gähnte er und schloss die Augen.
»So«, sagte Mira, »heute ist dein erster richtiger Tag bei uns. Du solltest etwas unternehmen, dir die Stadt angucken oder so was.«
»Vielleicht.« In diesem Moment fiel krachend die Haustür ins Schloss.
»Ich bin’s«, rief jemand.
»Norman Norman«, rief Mira zurück. »Wir sind im Atelier.«
Norman steckte seinen Kopf durch die Tür und sah sich |50| kurz um, bevor er eintrat. Er war barfuß, trug Jeans und ein grünes T-Shirt , in dessen Ausschnitt er eine rote Sonnenbrille mit viereckigen Gläsern eingehakt hatte. Seine Haare, die ihm bis auf die Schultern reichten, waren nicht lang genug, um hippiemäßig zu nerven, aber fast.
»Na, Norman?« Mira zog die Verschlusskappe von einem Filzschreiber und zeichnete die Umrisse eines Baumes auf ein leeres Blatt Papier. »Hast du irgendwas Brauchbares entdeckt?«
Er grinste. »Mann, heute war echt einer von den
guten
Tagen. Vier Aschenbecher für meine Skulptur – einer ist sogar ein Souvenir von den Niagarafällen – und ein alter Mixer und ein ganzer Karton mit Fahrradzubehör.«
Ich
wusste
es, dachte ich. Ein Kunstfreak.
»Wow!« Mira zog einen weiteren Filzschreiber aus ihrer so genannten Frisur. »Keine Sonnenbrillen?«
»Drei Paar, davon eine mit lila Gläsern.«
»Das klingt nach einem
sehr
guten Tag.« Mira sah mich an und setzte hinzu: »Norman und ich sind Flohmarktfans. Ich habe praktisch das ganze Haus mit Secondhand-Sachen eingerichtet.«
»Ist nicht wahr.« Geflissentlich beäugte ich das Aquarium mit dem großen Sprung darin.
»Doch, sicher.« Sie raffte es nicht mal. »Du würdest dich wundern,
was
manche Leute aussortieren! Wenn ich jetzt noch die Zeit hätte, alles zu reparieren, wäre das der perfekte Haushalt.«
Norman nahm eine Zeichnung in die Hand, warf einen Blick drauf und legte sie wieder auf den Tisch. »Ich habe heute Morgen Bea Williamson getroffen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Sie
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