Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Palast und ließ sich als Sohn eines ehemaligen Gefährten von Cristóbal melden, der an der zweiten Fahrt (im Jahre 1493) teilgenommen hatte. Ich war zwar müde, doch wie hätte ich ihn fortschicken können? Seine Erscheinung war stattlich, und er konnte kaum älter als dreißig sein. Sein Name sei Las Casas, meinte er, er trage denselben Vornamen wie ich, Bartolomé, und wolle wissen, was ich wirklich über die Predigt denke.
Er war 1502 mit dem neuen Gouverneur Nicolás de Ovando auf die Insel gekommen. Damals war er noch keine achtzehn Jahre alt und gehörte zu jenem Heer spanischer Ankömmlinge, die vom schnellen Glück träumten. Wie anderen war ihm ein Stück Land gegeben worden samt den Indianern, die darauf lebten. Dort hatte er es zu Wohlstand gebracht. Doch ein Leben, das nur darin bestand, Besitz anzuhäufen, war ihm schnell unerträglich geworden. Nach ein paar Jahren ließ er alles hinter sich, wurde Priester und trat, auch er, in den Dominikanerorden ein.
Wir verbrachten das Ende des Tages damit zu diskutieren. Warendie Entdecker nicht vom rechten Weg abgekommen? Was würde Gott sagen über unsere Grausamkeiten? Wir versprachen uns, dass jeder in der Heiligen Schrift nach Antworten suchen würde.
Ich kehrte zu meinen alten Gewohnheiten zurück.
In Lissabon hatten mein Bruder und ich uns jeden Sonntag abwechselnd ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen. Wer das Buch der Bücher nicht kennt, versteht nichts von der Welt, pflegte Cristóbal zu sagen.
Als Las Casas am übernächsten Tag zurückkehrte, ließ ich ihn die Stellen lesen, die ich im
Buch Jesus Sirach
gefunden hatte: die Antwort, eine unerbittliche Antwort, auf unsere Fragen.
«Schreit der Betrübte im Schmerz seiner Seele, so wird Gott, sein Fels, auf sein Wehgeschrei hören.» (4,6)
«Man schlachtet den Sohn vor den Augen des Vaters, wenn man ein Opfer darbringt vom Gut der Armen.» (34,20)
Las Casas verzog keine Miene. Aber ich sah seine Hände: Sie zitterten. Die Predigt von Montesinos hatte ihn ebenso berührt wie mich. Doch weil er jünger war und mutiger, begnügte er sich nicht damit, bedrückt zu sein. Er wollte sich in die offene Bresche stürzen. Was war sein Leben wert, wenn er es nicht von nun an der Wahrheit weihte?
Er war nicht allein gekommen. Ein Kind begleitete ihn, ein hochgeschossenes Jüngelchen mit runden Wangen, auf denen sich noch kein Bartwuchs zeigte. Und doch wies ihn seine weiße Kutte unzweifelhaft als Dominikaner aus. War die plötzliche Vergrößerung der Welt daran schuld, dass der Orden gezwungen war, so junge Leute zu rekrutieren?
«Ich möchte Ihnen Bruder Hieronymus vorstellen. Er ist gerade in unseren Orden eingetreten. Er hilft mir bei dem Unternehmen, das mir vorschwebt.»
Bei diesen Worten schreckte ich auf. Das Unternehmen, das Indien-Unternehmen. So hatte Cristóbal seine Fahrt getauft.
Las Casas hatte ein anderes Ziel: Er wollte nicht entdecken wieCristóbal, sondern erzählen. Von der Entdeckung erzählen, damit jeder davon wusste und seine Lehren daraus ziehen konnte.
Er senkte seine Augen in meine. Sein Blick war beinahe so nachdrücklich wie der Montesinos’.
«Eure Erfahrungen an der Seite Eures Bruders sind unvergleichlich. So alt wie Ihr seid, werdet Ihr nicht mehr lange auf dieser Erde weilen. Ihr könnt mir Eure Unterstützung nicht verweigern.»
Ohne weiter zu zögern, kniete ich nieder.
«Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes…»
«Was tut Ihr denn?»
Bruder Hieronymus, der Dominikanerjüngling, sah mich verständnislos an.
«Ihr beginnt zu… aber… so spät noch?»
Ihm fielen die Augen zu. Ich kenne die jungen Leute. Es gelingt ihnen nicht, gegen den Schlaf anzukämpfen. Ich hatte kein Erbarmen. Ohne es zu wissen, hatte ich schon so lange Zeit auf den Augenblick zu erzählen gewartet.
Las Casas lächelte.
«Spitze deine Ohren, Hieronymus, spitze deine Ohren. Die vier Seefahrten von Cristóbal gehören fortan in die Chronik der Curiositas, der menschlichen Neugier. Er verstand es, einen Weg über das Meer zu bahnen, der allen anderen überlegen ist. Durch ihn hat sich die Erdoberfläche verdoppelt, er hat den Horizont bevölkert.»
Normalerweise erinnert man sich bei Reisen lediglich an ihr Ziel, während sie doch zunächst einmal einen Ursprung haben.
Von den Ursprüngen möchte ich erzählen. Meine Finger schmerzen zu sehr, und sie sind gekrümmt vom Alter, so dass ich die Feder nicht mehr führen könnte. Deshalb werde ich dir meine Wahrheit
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