Die Tochter des Magiers
PROLOG
P lötzlich war die Frau verschwunden. Diese
Nummer versetzte die Zuschauer nach wir vor in Staunen, das
anspruchsvolle Publikum in Radio City ebenso wie die einfachsten Bauern
auf dem Jahrmarkt.
Als Roxanne auf den gläsernen Sockel stieg, spürte sie
deutlich die erwartungsvolle Spannung – eine Mischung aus
Hoffnung und Skepsis.
Die Magie faszinierte alle Zuschauer gleichermaßen.
Genau das hat Max schon immer gesagt, dachte sie. Immer und
immer wieder.
Umgeben von Nebelschwaden und angestrahlt von blitzenden
Lichtern, stieg der glasklare Sockel zur Melodie von Gershwins Rhapsody
in Blue langsam in die Höhe. Er drehte sich zweimal um die eigene
Achse, so daß die Menge die darauf stehende Frau von allen Seiten
betrachten konnte – und gleichzeitig von dem technischen Trick
abgelenkt wurde.
In der Art der Inszenierung, so hatte sie gelernt, lag der
einzige Unterschied zwischen plumper Scharlatanerie und Kunst. Passend
zur Musik trug Roxanne ein funkelndes mitternachtsblaues Kleid, das
sich eng um ihre hochgewachsene schlanke Gestalt schmiegte –
so eng, daß sich unter dieser glitzernden Seide kaum mehr als ihr
eigene Haut verbergen konnte. In ihrem Haar, das wie ein rotgelockter
Wasserfall bis zur Taille hinabfiel, funkelten Tausende von Sternen.
Vor allem die Männer im Publikum waren hingerissen vom Anblick
dieser Frau, die wie aus einer anderen Welt zu sein schien. Ihre Augen
waren geschlossen, ihr Gesicht war zur sternenbesäten Bühnendecke
erhoben.
Während sie nach oben schwebte, ließ sie die Arme im Rhythmus
der Musik hin und her schwingen, und hob sie zuletzt hoch über den
Kopf. Dies war einerseits ein optisch reizvoller Effekt, andererseits
aber auch zur Durchführung des Tricks notwendig.
Der Nebel, die Lichter, die Musik, die Frau – das
alles ergab ein wunderschönes Bild, und sie genoß selbst die
dramatische Wirkung.
Der Trick war eine äußerst komplizierte Angelegenheit und
erforderte eine ungeheure Körperbeherrschung. Alles mußte sekundengenau
aufeinander abgestimmt sein. Dabei verriet ihr entspanntes Gesicht
nicht einmal den Zuschauern in der ersten Reihe etwas von ihrer
äußersten Konzentration. Keiner wußte, wie viele Stunden sie die
Ausarbeitung dieses Tricks gekostet hatte, bevor sie ihn anschließend
in der Praxis ausprobieren und dann durch beharrliches Üben
perfektionieren konnte.
Langsam begann sich ihr Körper drei Meter hoch über der Bühne
im Rhythmus der Musik zu bewegen. Aus dem Publikum ertönte bewunderndes
Raunen und vereinzelter Applaus. Jeder konnte sie sehen, umspielt von
bläulichem Nebel und blinkenden Lichtern – das glitzernde
Kleid, die wilde Haarmähne, die hell schimmernde Haut.
Doch kaum einen Wimpernschlag später hielten alle den Atem an,
denn dort, wo sie eben noch gestanden hatte, richtete sich ein
bengalischer Tiger auf den Hinterbeinen auf und fegte fauchend mit den
Pranken durch die Luft.
Einen Moment lang herrschte im Publikum vollkommene
Stille – die schönste Stille, die es für einen Künstler geben
konnte –, ehe donnernder Applaus erscholl. Langsam sank der
Sockel wieder abwärts. Die mächtige Raubkatze sprang herunter und
stolzierte zur rechten Bühnenseite. Eine Frau in der ersten Reihe
schrie leise auf, als das Tier neben einer Kiste aus Ebenholz
stehenblieb und ein Brüllen ausstieß.
In der nächsten Sekunde stürzten die vier Seiten der Kiste in
sich zusammen – und aus den Trümmern sprang Roxanne, nicht
mehr in schimmerndes Blau gekleidet, sondern in ein silbernes Trikot.
Sie verbeugte sich anmutig, wie man es sie von Kindesbeinen an gelehrt
hatte.
Unter donnerndem Applaus stieg sie auf den Rücken des Tigers
und ritt von der Bühne.
»Fein gemacht, Oscar.« Mit einem kleinen Seufzer beugte sie
sich vor und kraulte das Tier hinter den Ohren.
»Hast wirklich hübsch ausgesehen, Roxy.« Ihr großer, stämmiger
Assistent befestigte eine Leine an Oscars glitzerndem Halsband.
»Danke, Mouse.« Sie stieg ab und strich sich das Haar aus dem
Gesicht. Hinter der Bühne herrschte geschäftiges Treiben. Einige Helfer
machten sich bereits daran, ihre Ausrüstung zusammenzupacken, um sie
vor neugierigen Blicken zu schützen. Da sie für den folgenden Tag eine
Pressekonferenz angesetzt hatte, wollte sie jetzt keinen Reportern mehr
Rede und Antwort stehen. Roxanne freute sich auf eine Flasche
eisgekühlten Champagner und ein heißes Bad im Whirlpool.
Ganz allein.
Geistesabwesend rieb sie ihre Hände, wobei
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