Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Anzahl von untröstlichen Witwen oder künftigen Witwen.»
«Was spielt das für eine Rolle?»
«Wozu braucht man Frauen?»
«Übrigens, wer kann mir sagen, woraus sich Tränen chemisch zusammensetzen?»
Den Rest des Gesprächs hörte ich nicht mehr. Die Kommission war weitergegangen.
Hör zu, Las Casas.
Schreibe alles gut auf, Hieronymus.
Der Tag, von dem ich jetzt erzählen werde, ist entscheidend für die Geschichte der Entdeckungsfahrten: An jenem Tag lehnte Portugal das Geschenk meines Bruders ab. An jenem Tag verzichtete Portugal auf die Neue Welt.
Ich öffnete das kleine Fenster, das eher ein Fensterloch war und auf den Hafen von Lissabon hinausging. In der Ferne, unten am Hügel, traten die Schiffe eines nach dem anderen aus der Dunkelheit hervor. Es kam mir vor, als hätten die Möwen nie zuvor so laut geschrien. In der Familie Colombo gibt es eine Art Wahn: Wir neigen zu dem Glauben, alle anderen Lebewesen um uns herum beschäftigten sich nur mit uns. Folglich dachte ich, diese Vögel hätten die Bedeutung des Tages erraten und wünschten uns viel Glück. Ich dankte ihnen bescheiden und zweifelte keine Sekunde daran, dass meine Geste von dem Federvieh gesehen und gewürdigt wurde.
Hinter mir wachte Cristóbal auf. Wie immer hatte er tief und fest geschlafen, im Gegensatz zu mir. Denn er hatte im Schlaf ständig seinen Vortrag gemurmelt: «Majestät, edle Herren von der Kommission…» Und kaum hatte ich gemerkt, dass ich eindöste, hatte er von vorne angefangen: «Majestät, edle Herren von der Kommission…»
Wir kleideten uns ein wie zu einer Prozession an Mariä Himmelfahrt, und mit dem Bedauern, dass unsere Mutter uns nicht indiesen Festgewändern sehen konnte, machten wir uns mit klopfendem Herzen auf den Weg zum königlichen Palast.
Spottende Kinder begleiteten uns. Cristóbal nahm sie nicht wahr. Er rezitierte für sich die Prophezeiung Senecas, eines seiner jüngsten Fundstücke. Wer oder welche rätselhaften Kräfte hatten ihn dazu gebracht, sich in die Tragödie
Medea
zu vertiefen?
Er hatte darin sechs Verse gefunden, die ihn in große Aufregung versetzten.
Venient annis
Secula seris, quibus Oceanus
Vincula rerum laxet, et ingens
Pateat telus tiphisque novos
Detegat orbes nec sit terris
Ultima tille
Sechs Zeilen, von denen er mir eine etwas «angereicherte» Übersetzung gab, wie er sie gewöhnlich anfertigte. Er bog sich nicht nur seine Familie nach Belieben zurecht, sondern auch seine Texte und Zahlen:
In späteren Epochen wird eine Zeit kommen, in denen das Weltmeer die Fesseln der Dinge lockern und ein riesiges Land offenstehen wird; und ein neuer Seemann wie jener, der Jasons Steuermann war und Tiphys hieß, wird zahlreiche Welten entdecken, und Thule wird nicht mehr das fernste Land auf Erden sein.
Zunächst hatte ich den Grund für seine Begeisterung nicht begriffen.
Er hatte sich nach allen Seiten hin umgeschaut, um sicherzugehen, dass uns niemand belauschte.
«Tiphys war Jasons Steuermann. Wie ich der Steuermann des Königs von Portugal sein werde.»
Seitdem hatten ihn diese sechs Zeilen überallhin begleitet. Sobald er sich bedroht fühlte, rezitierte er sie. Es war seine neueTaktik, um sich unangreifbar zu machen. Was hatte schon jemand von einer gewöhnlichen Mathematiker-Kommission zu befürchten, dessen Kommen von Seneca angekündigt worden war?
Bald sollte er sich mit Leib und Seele in die Suche stürzen, alle Bücher, angefangen bei der Heiligen Schrift, nach den Abschnitten durchforsten, aus denen man mit ein wenig Bereitwilligkeit herauslesen konnte, dass eine ihm ähnliche Person auf Erden kommen würde, um hier den Willen Gottes zu erfüllen. Der heilige Thomas von Aquin, Nikolaus von Lyra, der heilige Augustinus, sämtliche Bücher der Bibel, auch die Evangelien – mit der Zeit musste alles dazu beitragen, seinen Ehrgeiz zu rechtfertigen.
Eines Tages, kurz vor seinem Tod, brachte er dann eine Sammlung seiner Aufzeichnungen heraus: das
Buch der Prophezeiungen.
Ich, der ich kein solches Schutzschild besaß und nicht glaubte, dass mein Kommen in den Heiligen Schriften angekündigt worden war, ich verzehrte mich vor Angst. Die Berechnungen meines Bruders hatten mich nie ganz überzeugt. Sosehr ich sie auch in meinem tiefsten Inneren verschloss, damit kein Mathematiker sie hörte, eine leise Stimme sagte mir immer wieder, dass die Erde größer sei, als Cristóbal behauptete. Und die Tatsache, dass er sich selbst größer machte,
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