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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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änderte nichts an der Sache.
    Sehr höflich empfing uns zunächst der König, der nur von seinem Kammerherrn begleitet wurde. Eine reich gedeckte Tafel stand bereit. Doch man bat uns, vor dem Kamin Platz zu nehmen, als würden wir eine Unterhaltung unter Freunden führen. Kaum hatte ich mich gesetzt, da wünschte ich schon, ich wäre eines jener Tiere, Krabbe, Wurm oder Plattfisch, die imstande sind, im Boden zu verschwinden. Denn sobald wir die üblichen Komplimente gemacht, unsere Hochachtung kundgetan und das Ziel der Reise in Erinnerung gerufen hatten («nach Westen segeln, große Länder entdecken, Inseln und Festland; von dieser Seite aus Indien, die große Insel Cipango und die Königreiche des Großkhanserreichen»), steuerte mein Bruder, der Narr, anstandslos den Kern der Sache an, das heißt seine Forderungen.
    «Zum Lohn für dieses Unternehmen möchte ich ehrenvoll zum Ritter geschlagen werden und das Recht erhalten, goldene Sporen zu tragen…»
    Der Kammerherr schreckte auf. Der König riss die Augen auf. Mein Bruder fuhr fort:
    «Ich will den Titel Großadmiral des Weltmeeres…»
    Dieses Mal richtete sich der Kammerherr auf:
    «Dieser Genuese hat den Verstand verloren.»
    Der König machte eine beschwichtigende Geste. Mir schien ein belustigtes Blitzen in seine Augen getreten zu sein.
    «… und dass mir das Amt des Vizekönigs und ständigen Gouverneurs aller Inseln und aller Gebiete auf dem Festland verliehen wird, die ich persönlich entdecke oder die durch mein Betreiben entdeckt werden.»
    Der Kammerherr hatte sich in Sachen Heiterkeit auf die Seite des Königs geschlagen.
    «Ist das alles?»
    Mein Bruder schien diese Reaktionen nicht zu bemerken. Wie so oft lebte er auf einem anderen Planeten, dem Planeten seines Traumes.
    Er holte ein Blatt aus seiner Tasche, begann vorzulesen und wurde beim Lesen immer schneller.
    «Ich möchte den zehnten Teil aller Einkünfte aus dem Handel mit Gold, Silber, Perlen, Edelsteinen sowie mit allen Metallen, Gewürzen und anderen lohnenden Dingen, mit jeder Art Waren, die in den Grenzen meiner Admiralität gekauft, getauscht, gefunden oder erobert werden…»
    Er holte Luft.
    «… sowie das Recht, mich mit einem Achtel an den Kosten für jede Expedition in die neu entdeckten Länder zu beteiligen und mit einem Achtel an dem Gewinn beteiligt zu werden, den man daraus ziehen wird.»
    «Ihr verlangt viel», sagte der König.
    «Ich biete noch mehr!»
    Der König nickte und hob die rechte Hand wie jemand, der einen aufbrausenden Bittsteller beschwichtigen möchte.
    «Erlaubt zuvor vielleicht, dass Wir Euer Vorhaben prüfen.»
    Er gab einem Diener ein Zeichen. Eine nach der anderen schlüpften elf dunkle Gestalten in den Saal und nahmen auf einer Seite des Tisches Platz: die Kommission. Ohne die Aufforderung abzuwarten, setzte sich Cristóbal ihnen gegenüber, als hätte er es eilig, in die Schlacht zu gehen. Ich folgte ihm. Der König hatte sich in seinem Sessel nicht gerührt. Er würde während der ganzen Debatte dort im Hintergrund bleiben.
    Meister José Vizinho übernahm die Leitung der Befragung. Unter allen Mathematikern fürchteten wir ihn am meisten. Jeder wusste, dass er ein Schüler der Lichtgestalt von Salamanca gewesen war, des hochgelehrten Rabbi Abraham Zacuto. Wer hätte seine Autorität anzweifeln können? Für die Urteilsfindung des Königs würde die Meinung von Meister José maßgeblich sein.
    Und umso mehr, als kein Kopf hellsichtiger war als der seine.
    «Bevor wir zum Kern der Sache kommen, verehrter Colombo, nehmt bitte zur Kenntnis, dass wir keinerlei grundsätzliche Einwände gegen Euer Unternehmen haben. Unsere Rolle besteht lediglich darin, seine Durchführbarkeit einzuschätzen. Beginnen wir mit dem Wichtigsten: Wie groß ist, Eurer Meinung nach, das Weltmeer, das Ihr zu durchqueren gedenkt?»
    «Auf diese Frage hat Pierre d’Ailly im achten Kapitel nach einer langen Untersuchung geantwortet: Dieses Meer ist schmal.»
    «Dass etwas schmal ist, ist kein Maß, verehrter Colombo. Wir können uns nicht mit Gefühlen begnügen. Nennt Zahlen! Und um die Größe des Ozeans einzuschätzen, sollten wir zuerst versuchen, uns über die Größe des Festlands zu verständigen. Beginnen wir mit dem, was offensichtlich ist: Unser Planet ist rund; je weiter sich der Kontinent Europas und Asiens nach Osten erstreckt, umso kürzer wird daher der Weg sein, den man zurücklegen muss, um ihn in westlicher Richtung zu erreichen…»
    Alle Köpfe der

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