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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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ließ wieder einige Minuten verstreichen, bevor er zu einem neuen Angriff ansetzte:
    «Alle Karten sind eben. Folglich sind alle Karten falsch, denn die Erde ist rund.»
    Zu meiner Überraschung stimmte mein Bruder ohne Widerrede zu.
    «Das ist mir bekannt. Doch wie groß soll dein Globus werden?»
    Martin spreizte die Arme.
    «Und du glaubst, du kannst alles, was man über den Planeten weiß, auf so wenig Platz unterbringen?»
    «Zumindest werde ich von allem ein genaues Bild geben.»
    Cristóbal überlegte:
    «Eigentlich sind Karten zwar falsch, aber nützlich. Globen geben ein wahres Bild, aber sie sind unbrauchbar.»
    Sie unterhielten sich immer weiter. Aller Wahrscheinlichkeit nach verbrachten sie die ganze Nacht damit zu diskutieren, auch wenn ich es nicht mit Sicherheit sagen kann, denn ich hatte nicht die Kraft meines Bruders, gegen die Müdigkeit anzukämpfen, und schlief ein. Am Morgen debattierten dieser Martin Behaim (oder Böhme) und Cristóbal noch immer.
    Ich erlaubte mir, sie mit dem Hinweis zu unterbrechen, dass es mit Blick auf unser finanzielles Überleben Verpflichtungen gab, die auf uns warteten.
    Behaim verwickelte sich in neue Entschuldigungen, die meinBruder zurückwies, da für ihn, wie er versicherte, Augenblicke wie diese selten genug waren. Er hoffte, möglichst bald wieder das Vergnügen zu haben, und warum eigentlich nicht noch am selben Abend?
    Und als wir eiligen Schrittes zu unserer Arbeit gingen, hörte ich, wie er dem Schöpfer dafür dankte, dass er ihm diese Gelegenheit zum Gedankenaustausch geschickt habe.
    «Hast du mir nicht erzählt, Bartolomeo, der Alexandriner Eratosthenes habe den Erdumfang gemessen, indem er Dreiecke zeichnete?»
    Auf diese Weise kehrten Alexandria und die Dreiecke mit Nachdruck in die Familie Colombo zurück.
     

    Zur Entspannung zwischen zwei Lektionen erzählte uns Behaim oft vom Leben seines Meisters, des unermüdlichen Regiomontanus.
    Er wurde in der kleinen fränkischen Stadt Königsberg geboren, von der sich sein lateinischer Name ableitet. Nachdem er Astronomie studiert, Astrolabien gebaut, Mathematik gelehrt und den
Almagest
von Ptolemäus übersetzt hatte, ergriff ihn eine vielleicht übermäßige Liebe zu den Dreiecken.
    Damit sein Kopf zur Ruhe kam, baute er an Sonntagen Automaten. Sein Meisterwerk soll ein Holzadler sein: «Ihr könnt ihn auf der Kirchturmspitze von St. Elisabeth sehen. Wenn er eine bedeutende Persönlichkeit erblickt, verlässt er sein Nest. So wird er es auch machen, wenn ihr kommt. Er fliegt euch entgegen und schlägt dabei mit den Flügeln.»
     

    Einmal gab es Winde, erzählte Cristóbal.
    «Heute will ich dir die Projektion erklären», antwortete Martin.
    Einmal gab es Strömungen, fuhr Cristóbal am folgenden Tag fort.
    «Hast du die Sache mit dem magnetischen Nordpol vollständig begriffen?», fragte Martin.
    Der kleine Diego saß still in seiner Ecke und zeichnete, häufig Drachen.
    Wenn Martin sich spät in der Nacht von uns verabschiedete, dankte er uns für den Austausch mit tiefen Verbeugungen, und er schloss mich in seine Dankbarkeit ein, obgleich mein Beitrag sich nur aufs Zuhören beschränkt hatte. Ich war so glücklich darüber, dass er, anders als unsere Gäste es gewöhnlich taten, mich nicht für jemanden hielt, der zu vernachlässigen war, dass ich sein Gebrechen nicht sofort bemerkte: Dieser Mann lächelte nie. Sein Gesicht blieb versteinert vor Ernst, als sei es ihm von irgendeiner höheren, eifersüchtigen Macht verboten worden, jemals die geringste Zufriedenheit zu bezeugen.
     

    Sechs Monate nach Cristóbals Tod, gegen Ende jenes düsteren Sommers, in dem ich von Stadt zu Stadt zog, ohne je genug Wärme zu finden, um das Eis in meinem Herzen zu schmelzen, erreichte mich schließlich ein Schreiben. Es kam aus Nürnberg. Ich öffnete es mit klopfendem Herzen, als ob es aus einem Land käme, in dem mein Bruder noch lebte. Ganz unrecht hatte ich nicht. Martin drückte mir sein Beileid aus und erinnerte mich an unsere Jugend, als Cristóbal sich mit mir die Welt geteilt hatte.
    Euer Bruder hat den besseren Teil gewählt: das Unbekannte. Das Bekannte, das weiß ich aus Erfahrung, verdient es nicht, dass man ihm sein Leben opfert, umso weniger, als es immer von Unbekanntem überquillt. In dem Jahr, als Euer Bruder auf Entdeckungsfahrt war, begnügte ich mich mit Nachschöpfungen.
    Während meines Aufenthalts in Lissabon fragtet Ihr mich immer wieder, warum ich nicht lächeln konnte. Heute liefere

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