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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Kommission nickten gleichzeitig, als wäre dieArgumentation ein Musikstück, bei dem jeder den Takt schlug. Niemand sah denjenigen an, der das Wort führte, Meister Vizinho. Alle Augen richteten sich auf meinen Bruder, dem es für diesen Augenblick gelang, seine Anspannung zu meistern. Nur ich, der ich ihn besser kannte als jeder andere auf der Welt, bemerkte das schnelle Schlagen seines rechten Lids. Auch Meister Rodrigo glühte innerlich unverhohlen. Die Finger seiner linken Hand trommelten auf dem Tisch, und er zog in den Mundwinkeln die Lippen hoch, so dass man die Zacken seiner Zähne sehen konnte: Dieser Mann hatte keine Geduld, und er liebte es blutig.
    Meister Vizinho fuhr fort. In welchen Regionen seiner Kehle oder seines Bauchs fand er die gefährlich sanften Töne, die er seiner Stimme gab?
    «Ich wiederhole meine Frage. Gehen wir von unserem Globus aus, der per definitionem 360 Grad hat. Welchen Anteil an diesen 360 Grad haben Europa und Asien gemeinsam?»
    «282 Grad. Folglich erstreckt sich das Weltmeer, das ich mit Eurer Hilfe durchqueren will, nur über 78 Grad.»
    Meister Rodrigo konnte sich nicht zurückhalten.
    «Unsinn! Wo habt Ihr diese Zahl her?»
    Cristóbals erster Fehler: Er wollte zu schnell antworten.
    «360 minus 282 macht 78.»
    Meister Rodrigos Augen loderten:
    «Danke! Rechnen können wir auch. Ich spreche von den 282 Grad.»
    «Nach meinen eigenen Studien, die übereinstimmen mit den Schlüssen des hochgelehrten Griechen Ptolemäus, die wiederum durch alle Reiseberichte bestätigt werden, angefangen bei dem maßgeblichen, dem des Venezianers Marco Polo, kann diese Zahl nicht kleiner sein als 282.»
    «Unsinn!»
    Ohne sich beeindrucken zu lassen, fügte Cristóbal hinzu, da er vorhabe, von den Kanarischen Inseln loszufahren, würde er genau genommen 9 Grad weiter westlich in See stechen. Die Seereisewürde sich also nur über 78 minus 9 Grad erstrecken, das seien 69 Grad.
    Dom Diego Ortiz hatte alle Mühe, wieder für Ruhe zu sorgen. Er bat Meister Vizinho darum fortzufahren. Der König hatte Cristóbal nicht aus den Augen gelassen.
    «Wir werden zu der Anzahl von Graden zurückkehren. Betrachten wir jetzt die Größe des einzelnen Grads. Welcher Entfernung entspricht ein Grad?»
    Schon öffnete Cristóbal den Mund. Doch Meister Vizinho unterbrach ihn.
    «Für alle, die sich nicht wie wir in diesem Bereich auskennen, rufe ich in Erinnerung…»
    Und er gab uns ebenso klar wie kurz eine Unterrichtsstunde in allen Arten von Graden, die damals galten. Von diesem Augenblick an wusste ich, dass unser Unternehmen schlecht in die Wege geleitet war.
    «Nun, verehrter Colombo, welchen Grad legt Ihr zugrunde?»
    «56 2/3 Meilen.»
    «Das christliche Maß! Was für ein Zufall! Hättet Ihr ein noch kleineres Maß gefunden, dann hättet Ihr sicher das genommen! Wisst Ihr nicht, das die besten Kosmographen einen Grad mit 62 1/2 Meilen ansetzen?»
    Es folgte ein lautes Stimmengewirr, durchsetzt mit Gespött, das unsere Ohren nicht mehr verletzte, so sehr waren wir daran gewöhnt: Man wies gerne auf unsere Genueser Unredlichkeit, unsere Genueser Unverschämtheit, unsere Genueser Unwissenheit hin.
    Wieder musste Dom Diego die Stimme erheben, damit die Sitzung fortgesetzt werden konnte. Meister Rodrigo war am hartnäckigsten in seiner Arglist. Fast wie ein Hund, den man sehr lange an der Leine gehalten hat, bevor man ihn schließlich auf den Hirsch losgelassen hat.
    Nur der betulichen Stimme von Meister Vizinho gelang es, die Gemüter ein wenig zu beruhigen.
    «Kommen wir zum letzten Punkt, vielleicht dem wichtigsten,um die Länge der von Euch vorgeschlagenen Reise einzuschätzen, verehrter Colombo. Wie viel misst Eurer Meinung nach eine Meile? Wartet! Lasst mich raten! Irgendetwas sagt mir, dass Ihr auch hier die kürzeste Meile genommen habt, die italienische Meile, die um ein Viertel kürzer ist als die arabische. Habe ich recht?»
    Meinem Bruder blieb nichts anderes übrig als zuzustimmen. Was er hochmütig tat, trotz der spöttischen Bemerkungen: «Natürlich die italienische Meile! Wie könnte ich auch als guter Christ den Berechnungen von Ungläubigen Glauben schenken?»
    Dieses Mal musste Dom Diego an den König erinnern, damit so etwas wie Ruhe eintrat.
    «Unsere Kommission scheint mir jetzt ausreichend unterrichtet zu sein. Nach Herrn Colombo, dessen Aussagen ich unter seiner Aufsicht wiederhole, ist das Meer, das er Richtung Westen durchfahren will, also… schmal. Denn zum einen trennt uns

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