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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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ichEuch die Antwort, die ich noch keinem Menschen eingestanden habe: Es stimmt niemanden heiter, die Dinge zu überprüfen.
    Eigentlich sollte ich Eurem Bruder erbitterten und ewigen Hass entgegenbringen. Dieses verfluchte Jahr 1492! Die Entdeckungsreise Eures Bruders vernichtete meinen Globus genau in dem Augenblick, als ich ihn fertiggestellt hatte! Ich rühmte mich schon, unseren Planeten in seiner Gesamtheit dargestellt zu haben, da bewies er, dass es neue bisher unbekannte Länder gab. Meine Wut war gewaltig. Wut ist das Schlimmste bei Gelehrten, denn sie höhlt einen von innen aus, weil man sich nicht mit Fußtritten oder Prügeleien Luft verschaffen kann. Ich verschanzte mich. Und plötzlich ereilte mich eine seltsame Krankheit: Ich wurde taub für allen Lärm, alle Gerüchte und alle Berichte, die vom Westen sprachen. Ich fand wieder ein wenig Frieden, als ich an unsere Frauen dachte, an seine, Filipa, und an meine, Martha. Es kam mir vor, als hätten wir ähnlich gewählt: Beide waren Töchter einer Insel, seine von Porto Santo, meine von den Azoren. Frauen sind die Vorhut, sie sind bereits Schiffe, und die Liebe, die sie einem schenken, ist eine Seereise: Stürme fegen über dich hinweg. Außergewöhnliche Düfte umwehen dich. Man bewegt sich unter unbekannten Pflanzen.
    Vielleicht habe ich an jenem Tag, als ich an die Inseln, an unsere Frauen und ihre gemeinsame Herkunft dachte, mit dem Fluch gebrochen, der Euch einst so betroffen gemacht hat: Einen Moment lang habe ich gelächelt.
    Beide Frauen sind tot, sie liegen reglos unter der Erde, desgleichen Euer Bruder. Dabei war er doch der rührigste unter allen Menschen. Und ich bereite mich darauf vor, hier, in Nürnberg, zu verfaulen, an dem Ort in Europa, der, wie ich herausgefunden habe, am weitesten vom Meer entfernt liegt. Unser Leben ist vorüber. Das Beste davon war unsere Freundschaft in Lissabon. Jeder hegte dort seinen eigenen Traum und widmete dem Traum des anderen gerade so viel Aufmerksamkeit, um darin den Stoff zu finden, der den eigenen gedeihen ließ. Kein leidenschaftlicher Mensch begeistert sich für eine Leidenschaft, die nicht die seine ist.Diese Gleichgültigkeit, die ein grundlegender Bestandteil unserer Natur ist, haben wir damals so weit wie möglich zurückgedrängt.
    Er schloss mit zwei Sätzen, die ihr Ziel jedoch verfehlten:
    Lieber Bartolomeo, nehmt Eure Trauer als Überlebender nicht für die seine. So wie ich ihn kannte, weiß ich, dass er beim Vorauseilen in den Tod seiner letzten und stärksten Neugier folgte.
    Ich schrieb nie eine Antwort. Einem Mann wie Martin Behaim-Böhme schuldet man die Wahrheit. Ich hätte mich gezwungen gesehen, ihm von den letzten Schrecken in Cristóbals Leben zu erzählen, von seinen grauenhaften Visionen, seinen Delirien, seinen nächtlichen Angstanfällen. Keinerlei Ähnlichkeit mit dem Fieber, dem Frohlocken des Seefahrers, der es eilig hat, unbekannte Gegenden anzulaufen.

 
     
     
     
    Eines Tages im Juni 1484 erklärte Cristóbal, er sei bereit. Seine Gespräche mit Behaim hatten die wenigen Lücken aufgefüllt, die er sich freiwillig eingestanden hatte. Die Stunde war gekommen, vor die Mathematiker-Kommission zu treten, jenen schrecklichen Rat, dem der König sein Ohr lieh. Ohne wohlwollende Beurteilung durch diese Kommission konnte man auf keine Finanzierung der Reise hoffen.
    König Johann II. liebte das Wissen. Und wie alle, die diese Leidenschaft peinigt und daher auch ängstigt, hatte er sich mit Gelehrten umgeben, auf deren Rat er hörte.
    Unter sämtlichen Disziplinen zeigte er eine besondere Vorliebe für die Mathematik. Er sah in ihr mehr als eine vergnügliche Spielerei für den Geist, mehr als eine Sprache, mehr als eine geheime Ordnung, der die Natur zu gehorchen schien: Für ihn war sie eine Waffe der Regierung.
    Stets wiederholte er, dass ein Land von so bescheidener Größe wie sein Portugal über keine anderen Schätze verfüge als die Mathematik.
    Und wenn man ihn mit aller gebotenen Höflichkeit fragte, was er damit meine, erklärte er, die Intelligenz sei der einzige Schatz der Schwachen. Da aber die Mathematiker die höchste Intelligenz darstellten, müsse das Königreich sie sich zu Verbündeten machen.
    Dieser Logik folgend, hatte er die Mathematiker-Kommission gegründet.
    Habt Nachsicht mit meinem Gedächtnis, ich kann mich nicht an alle Mitglieder dieser Kommission erinnern. Mir sind nur die wichtigsten von ihnen gegenwärtig geblieben, ich meine diejenigen, die

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