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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Stock und Stein zum Hafen, um dort herumzustrolchen. Sobald wir sprechen konnten, baten wir, auf ein Schiff zu dürfen.
    Da niemand auf unsere Forderungen einging, nutzten wir eines Tages die heilige Stunde der Siesta und schlichen uns auf ein Boot. Cristóbal muss etwa acht, ich sechs Jahre alt gewesen sein. Aneinandergekauert zwischen zwei Säcken faulenden Getreides, erlebten wir unsere erste Seereise.
    Dabei machten wir zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Seekrankheitund gelangten zu der selbst nach sechzig Jahren noch lebhaft empfundenen Gewissheit, dass es Schlimmeres gab als den Tod.
    Auf wenig heldenhafte Weise erreichten wir Elba, unsere erste Insel: Sobald wir in Ufernähe waren, warf uns der Schiffseigner ins Wasser. Kein besonderes Protokoll außer Gelächter empfing die beiden triefenden Jungen.
    Von einigen Hunden begleitet, machten wir uns unverzüglich daran, die Insel zu erkunden. Cristóbal brummte:
    «Die ist zu klein! Und viel zu nah!»
    Ich dagegen war entzückt. Festland und Meer, Berg und Flur, Felder mit Olivenbäumen, Rebstöcke, Strände und Wälder, nicht zu vergessen eine Eisenmine… Alles auf einer Fläche versammelt, die man nahezu an einem Tag hätte durchqueren können, wenn unsere kleinen Beine muskulöser gewesen wären.
    Ich entdeckte, dass weite Räume keinen wirklichen Nutzen haben. Man konnte in bescheidenen Welten leben, die dennoch alles Lebensnotwendige boten. Als ein Kind, das aufgrund seiner geringen Größe und seiner unbedeutenden Stellung von den Erwachsenen ständig gedemütigt wurde, beglückte mich diese Entdeckung. Inseln hatten nicht den Hochmut der Kontinente. Inseln nahmen den richtigen Platz im Raum ein. Inseln hatten ein menschliches Maß.
    Eine andere Entdeckung: Der Monte Capanne schien dorthin gesetzt worden zu sein, damit man von seinem Gipfel aus die Inseln sehen und grüßen konnte, die der großen Schwester Elba Gesellschaft leisteten. Ich habe mich mein ganzes Leben lang nicht mehr an ihre Namen erinnert, und jetzt fallen sie mir wieder ein wie vieles aus meiner Kindheit, während das Übrige verloren geht: Gorgona, Capraia, Pianosa, Giglio, Montecristo und Giannutri.
    Ich war erst etwa sechs Jahre alt, kein Alter, um zu philosophieren. Erst viel später fand ich die Erklärung für das Glück, das mich an jenem Tag überwältigte. Ich hatte zum ersten Mal zwei Gefühle empfunden, die im Laufe meines Lebens immer stärkergeworden sind und die sowohl meine Rückkehr nach Hispaniola erklären wie auch die Absicht, hier mein Leben zu beschließen: Ich habe eine Vorliebe für Überblicke, und ein seltsames Zugehörigkeitsgefühl verbindet mich mit Archipelen. Zusammen haben diese beiden Gefühle ein fortwährendes Bedürfnis nach Inseln bei mir geweckt.
    Wir kehrten erst zwei Tage und zwei Nächte später zurück. Von irgendeinem Vogel benachrichtigt, der ein Auge auf Kinder hatte, erwartete uns Domenico, unser Vater, am Kai.
    Unmittelbar vor der Tracht Prügel, die das Abenteuer beschloss, schaffte es Cristóbal noch, die Rollen zwischen uns zu verteilen. Er wusste schon:
    «Du magst Inseln, also lasse ich sie dir. Ich will weiter hinaus.»
     

    Ich war stolz auf diesen Auftrag, wie leider auf alle, die er mir später anvertrauen sollte, und ich machte mich unverzüglich an die Arbeit.
    Wie sollte ich eine so umfangreiche Aufgabe bewältigen, und wenn ich ein ganzes Leben lang Zeit gehabt hätte? Aber mein Bruder wollte schnelle Ergebnisse haben.
    Die erste Einschränkung des Blickfelds: die Binneninseln, die Inseln, die der Schöpfer über das Mittelmeer verstreut hatte. Cristóbals Reise war nicht die von Odysseus. Die Inseln, denen er bei seiner Fahrt nach Westen den Rücken zuwandte, interessierten ihn nicht.
    Blieben die anderen. Marco Polo zählte 12.700 allein vor Indien, der Katalanische Weltatlas war immerhin bescheidener und verzeichnete in dieser Region nur 7648 Inseln…
    Wer war ich, dass ich ihre genaue und zudem schwankende Anzahl hätte wissen können? Es gibt Dinge, wie die Sterne, deren Zahl in alle Ewigkeit allein der Schöpfer kennt.
    In dieser Vielfalt musste ich mich an die Inseln halten, die für das Unternehmen nötig waren.
    Cristóbal hatte mir versichert, er wolle nicht gegen den Wind segeln. Er würde also keine Nordroute nehmen. Folglich verdienten weder die Ausläufer von Thule noch das angewinkelte Land, ich meine Albion, England, meine Aufmerksamkeit.
    Es kam nur auf die Südroute an.
    Ich wusste, worauf mein Bruder hoffte:

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