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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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sagen, gehen wir zur nächsten Provinz, die dem Scirocco entgegen
sieben Tagesreisen
weiter gen Südosten liegt und den Namen Kaschmir trägt.
    Der Reisende verlässt Karakorum und das Altai-Gebirge, wo, wie Ihr wisst, die Tataren ihre Toten begraben; er reitet dann nordwärts durch die Bargu-Ebene. Das dauert gute
vierzig Tage.
    In seinem Heft fügte Cristóbal sorgfältig zwölf, dann sieben, dann vierzig hinzu.
     

    Bekanntlich wurde Marco Polo bei seiner Rückkehr nach dreiundzwanzig Jahren des Reisens und des Verweilens in der Fremde, und nachdem er allen nur denkbaren Gefahren entronnen war, von Genuesen gefangen genommen.
    Ich kenne meine Landsleute und ihre Begeisterung für Geschichten gut, und zwar für alle Geschichten, ob erfundene oder wahre, mit einer Vorliebe für Letztere, denn sie wissen, dass man mit einer wahren Geschichte zehn neue erfinden kann. Sie konnten sich einen Mann, der so unglaublich vielen Menschen und Dingen begegnet war, einfach nicht entgehen lassen! Im Kerker diktierte er seine Erinnerungen. Jetzt, da mich das Alter, dieses andere Gefängnis, meinerseits festgesetzt hat, jetzt, da Cristóbals Laufbahn zu Ende ist, habe ich alle Muße, um mich langsam, ganz langsam wieder in das Buch von den
Wundern der Welt
zu vertiefen. Jede Seite löst Verzücken in mir aus. Ich schlage nach dem Zufall eine auf. Hören Sie diese:
    Die Edelfrauen dieses Landes kleiden sich wie Männer mit Hosen, die aus Baumwolle und feinen Seiden mit Moschusduft gewirkt sind und bis zu den Füßen reichen; ich will Euch gleich schildern, wie: Einige Damen stopfen in ihre Hosen, also in ihre Beinkleider, hundert Ellen feine Leinen- und Baumwollstoffe, die sie wie Windeln um ihren Körper wickeln, andere achtzig undwieder andere sechzig Ellen, je nach den Mitteln, über die sie verfügen. Das tun sie nur deshalb, um breite Hüften vorzutäuschen und schön zu sein, ihren Männern gefallen nämlich dicke Frauen, und diejenigen, die unterhalb der Taille am prallsten aussehen, erscheinen ihnen schöner als die anderen.
    Dies Königreich ist jetzt genügend beschrieben, und ich berichte im Folgenden von einem anderen Volk, das zehn Tagereisen südwärts von dieser Provinz lebt.
    Oder diese:
    Von einer ganz seltsamen Sitte habe ich noch vergessen zu schreiben; hört es Euch an: Jemandem stirbt ein Knabe von, sagen wir, vier Jahren. Zur gleichen Zeit stirbt in einer anderen Familie ein Mädchen im Kindesalter. Nun veranstalten die Eltern eine Hochzeit; sie vermählen das tote Mädchen mit dem toten Knaben; der Kontrakt wird urkundlich aufgezeichnet. Sie verbrennen die Urkunde und behaupten, der Rauch gehe durch die Luft bis in die andere Welt zu ihren Kindern, und diese wüssten dann, dass sie nun Mann und Frau seien. Die Eltern laden zu einem großen Fest; einen Teil von den Speisen schütten sie da und dort aus, weil sie meinen, so könnten die Kinder im Jenseits davon kosten. Daraufhin erstellen sie zwei Bildnisse, eines von dem Mädchen, das andere von dem Jungen, stellen sie auf einen Wagen, der so schön wie möglich ausgeschmückt ist. Von zwei Pferden gezogen, fahren sie die beiden Bildnisse mit größter Freude und jubelnd durch die ganze Gegend; dann führen sie den Wagen ins Feuer und lassen die beiden Bildnisse verbrennen; in langen Gebeten flehen sie ihre Götter an, dafür zu sorgen, dass diese Heirat in der anderen Welt als glücklich angesehen werde. Aber sie veranstalten noch viel mehr. Sie malen menschliche Abbilder auf Papier, sie zeichnen Pferde, Kleider, Münzen und allerhand Geräte, nachher zünden sie alles an. Sie glauben nämlich, in der anderen Welt würden ihre Kinder so viel besitzen, wie auf dem verbrannten Papier dargestellt war. Nach diesen Zeremonien betrachten sich die zwei Familienals Verwandte und beachten diese Verbundenheit so ernsthaft, als wenn die Vermählten am Leben wären.
     

    Ich erinnere mich gut… Ich brauche nur mein Gedächtnis zu bemühen, sogleich spürt mein Körper wieder den Zustand extremer Erschöpfung, in dem er sich damals befand. Ich glaube, ich habe wochenlang nicht geschlafen. Tagsüber zeichneten wir Seekarten, und nachts folgten wir diesem Venezianer. Ich pendelte vor und zurück wie die Juden beim Gebet. Mein Mund war staubtrocken, da ich mit murmelnder Stimme so viele Sätze lesen musste. Mit einem Mal stoppte ich. Ich unterbrach einfach mein frenetisches Gebrabbel. Und rieb mir die Augen, Augen, die ein Bösewicht durch zwei glühende Kohlen ersetzt

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