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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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ich die Gegenden, wo die Gewürze vorkommen, als westliche bezeichne, obgleich sie gemeinhin östliche genannt werden. Denn für den, der sich auf dem Seeweg in die südliche Erdhälfte begibt, werden sich jene Länder stets im Westen befinden, während diese selben Länder im Osten zu liegen kommen, falls er sich auf dem Landweg über die nördliche Erdhälfte dahin begibt.
    Der Brief des Florentiners ging in den Berichten der Notare unter. Sie erzählten von so vielen verbürgten Wundern an den afrikanischen Küsten – warum sollte man sich da für neue, dem Zufall geschuldete Routen interessieren, um nach Indien zu gelangen? Der König zuckte mit den Schultern. Und wenn ein Schreiben den König nicht interessierte, machte man sich nicht einmal die Mühe, es zu verzeichnen. Es verschwand im bodenlosen Abgrund der königlichen Missachtung. Wo es alsbald zu existieren aufhörte.
    Dennoch holte der Hauptarchivar, geführt von seinem übermenschlichen Gedächtnis, das zweifellos mit Regalen ausgestattet war, wie man es häufig bei Angehörigen seiner Zunft bemerken kann, den Brief vier Jahre später aus irgendeiner staubigen Kammer, um ihn demjenigen zu übergeben, der sein Freund geworden war: Cristóbal.
    Keine Sorge, Las Casas. Trotz meines Alters funktioniert mein Gedächtnis noch tadellos. Leider. Mir scheint, richtig wildes Phantasieren hätte mich vielleicht von meinen Gespenstern befreit. Anders als Ihr denkt, habe ich nicht den Faden verloren. Jetzt komme ich wieder auf den
Aplomb.
    Denn sobald Cristóbal den Brief des Florentiners gelesen und noch einmal gelesen hatte, beschloss er, diesem ungeachtet der Einwände des Archivars zu schreiben. Diese entbehrten nicht der Logik: Der Brief eines Ausländers, den der portugiesische König unbeachtet lässt, hat allein aufgrund dieser Tatsache keine Daseinsberechtigung.Wenn der Verfasser des Briefes, der nicht mehr existiert, ein Schreiben erhält, in dem er um Erläuterungen zu diesem nicht vorhandenen Brief gebeten wird, ist das der unwiderlegbare Beweis, dass der Brief noch existiert. Für den unglücklichen Archivar kann dieser Widerspruch schlimme Folgen haben.
    Mein Bruder kümmerte sich nicht um solche Befürchtungen. Wie immer beachtete er die menschlichen oder materiellen Ruinen nicht, die er zurückließ. Für ihn zählte nur eines, seinem Ziel näher zu kommen.
    Da ich keine Zeit hatte, nach Florenz zu reisen, konnte ich den Brief meines Bruders nicht finden. Doch ich habe mir Toscanellis Antwort angesehen:
    Ich weiß um Deinen edlen Wunsch, dahin zu fahren, wo die Gewürze gedeihen.
    Als Antwort auf Deinen Brief sende ich Dir mithin die Abschrift eines anderen Briefes, den ich einige Tage zuvor einem meiner Freunde schrieb, der vor dem Kriege mit Kastilien am Hofe des durchlauchtigsten Königs von Portugal weilte, in Beantwortung seines Schreibens, das er im Auftrag Seiner Hoheit in der bewussten Angelegenheit an mich gerichtet hatte. Ferner sende ich Dir eine andere Seekarte, die jener gleicht, die ich ihm geschickt habe, so dass Deine Wünsche in allem befriedigt sein dürften.
    Unverschämt und ohne Skrupel – welch ein neues Beispiel von Aplomb! – schrieb Cristóbal dem Florentiner postwendend.
    Dieser antwortete, allerdings etwas knapper, ärgerlich über die neuerliche Störung:
    Daher (…) wundert es mich durchaus nicht, dass Du in Deiner Unternehmungslust und die ganze portugiesische Nation, die immer hervorragende Männer zu den Ihren zählte, mit Feuereifer auf die Ausführung dieser Reise drängen.
    Abschließend wünschte er Cristóbal viel Glück.
    Ein Loblied auf den Aplomb.
    Ohne ihn und ohne seine Schwester, die Unverschämtheit, hätte mein Bruder nie eine schriftliche und kartographische Bestätigung unserer Berechnungen anhand der Lektüre von Marco Polo, Pierre d’Ailly und so vielen anderen bekommen. Ptolemäus hatte Asien zu klein eingeschätzt. Man musste dreißig Längengrade hinzufügen.
    Folglich war das Meer im Westen entsprechend schmaler.
    Welche Information hätte uns nützlicher sein können?

 
     
     
     
    Eines Abends kehrte Domenico, unser Vater, mit ungewohnter Fröhlichkeit in den Augen nach Hause zurück, einer Fröhlichkeit, die nicht vom vielen Wein herrühren konnte, den er in den Tavernen gebechert hatte.
    «Jetzt weiß ich, warum wir nicht reich sind!»
    Wir sahen ihn verdutzt an, weniger wegen des angekündigten magischen Rezepts, dem die ganze Welt hinterherjagte, als vielmehr wegen des Geständnisses,

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