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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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hatte eine Pilgerfahrt erwähnt, die er unternehmen wollte, bevor er starb. Er sagte, dort, bei Bagdad, oder noch weiter im Osten, in den Ländern entlang der Seidenstraße, bei Xiva, bei Samarkand, herrsche eine Helligkeit, die einen hinter die Dinge blicken lasse. Und aus diesem Licht sei die
Al-ğabr
hervorgegangen.
    Dieses Licht habe ich nur selten erblickt, nicht öfter als das berühmte grüne Leuchten auf See. Doch unser Vater hatte recht. Die Liebe zu den Zahlen steigert das Licht und in der Folge das Können: Man erblickt hinter dem Durcheinander eine Ordnung, die andere Menschen, welche den Zahlen nicht zugetan sind, nicht sehen.

 
     
     
     
    Diese fernen mathematischen Erinnerungen fielen uns nach und nach wieder ein, als sich eines Tages ein Mann in unserem Laden vorstellte:
    «Ich komme aus Nürnberg. Man hat mir von den Brüdern Colombo erzählt. Seid Ihr die Brüder Colombo? Ich brauche Euer Wissen.»
    Cristóbal betrachtete den Neuankömmling verwundert:
    «Wer bist du? Du gleichst keinem Kartographen, den ich kenne.»
    «Mein Name ist Martin Behaim, Kosmograph von Beruf.»
    «Behaim, Behaim…»
    Cristóbal liebte es wie ein Kind, Namen auf der Zunge zergehen zu lassen, besonders wenn sie Orte bezeichneten. Er drehte und wendete sie im Mund wie Naschwerk.
    «Behaim heißt so viel wie Böhmen, nicht wahr? Kommst du von dort, so wie wir aus Genua?»
    «Zweifellos», erwiderte unser Gast. «Böhmen ist Teil unserer Familiengeschichte. Auch wenn man immer von weiter her kommt, als man glaubt. Ich wohne in Nürnberg. Regiomontanus, der mit Geburtsnamen Johannes Müller heißt, hat mich in Algebra und Geometrie unterrichtet. Kennt Ihr
De triangulis omnimodus?»
    Cristóbal zuckte mit den Schultern zum Zeichen, dass er keine Zeit dafür hatte, sich mit deutschen Hirngespinsten zu beschäftigen.
    Daraufhin erklärte dieser Behaim, dass man die Dreiecke zu Unrecht geringschätze. Habe man sie sich einmal zu eigen gemacht, würden sie zu unvergleichlichen Messinstrumenten.
    Wir setzten eine hochnäsige Miene auf und versicherten ihm, dass über das Vermögen dieser Figuren niemand besser Bescheid wisse als wir. Er möge jetzt bitte so schnell wie möglich den genauen Grund für seinen Besuch angeben. Behaim entschuldigte sich dafür, uns zu stören. Der Ruf meines Bruders in Sachen Navigation sei bis zu ihm gedrungen. Da er das Ziel habe, eines Tages einen Erdglobus herzustellen, der so umfassend wie nur möglich alles darstellen solle, was die Menschen an Wissen gesammelt haben, sei ihm der Beitrag eines Seemanns wie Cristóbal unbezahlbar. Im Gegenzug bot er an, die Mathematik und Kosmographie bereitzustellen, die für die Navigation auf dem offenen Meer, wenn keine Küste mehr sichtbar ist und man sich nur noch an den Sternen orientieren kann, am nützlichsten ist.
    Cristóbal brummte, es sei ihm nicht gänzlich unbekannt, wie man den Himmel liest, auch wenn er kein Deutscher sei. Das beweise schließlich auch sein Aufenthalt in Lissabon, denn andernfalls würde er noch immer irgendwo inmitten des Ozeans verirrt seine Runden drehen. Im Übrigen komme ihm die Idee mit dem Globus versponnen vor.
    Es entspann sich eine prächtige Diskussion, die ich treu wiedergeben will, wenn mein armer Kopf mich nicht im Stich lässt.
    «Ein Globus? Was für eine seltsame Idee! Nichts ist unpraktischer auf See als eine Kugel. Einmal war ich so verrückt, einen mit an Bord zu nehmen: So gut ich ihn auch fixierte, immer rollte er von einer Seite zur anderen.»
    «Die Kenntnis unserer Erde ist nicht allein Seemännern vorbehalten.»
    Diese Bemerkung, die von purer Vernunft war und die Martin mit derselben Sanftheit vortrug, mit der er jedes seiner Worte aussprach, machte Cristóbal sprachlos. Mit offenem Mund starrte er Martin an, als glaubte er, dieser sei übergeschnappt. Eine Reise ohne Seefahrt war in Cristóbals Gedankenwelt unfassbar. In seinemKopf wurde die Seidenstraße von so etwas wie Kapitänen befahren. Die Kamele waren die Barken, und selbst Marco Polo war von Venedig bis zum Hof des Großkhans per Schiff gefahren und nicht zu Fuß gewandert.
    Martin verstummte. Er ließ meinem Bruder alle Zeit, die er brauchte, um sich an die unglaubwürdige Vorstellung zu gewöhnen, dass Seefahrer nicht die einzigen mit Verstand begabten menschlichen Wesen waren.
    Nach einer langen Pause nickte Cristóbal mit dem Kopf. Erst einmal, dann ein zweites Mal:
    «Gut. Nehmen wir es einmal an. Und was folgt daraus?»
    Unser Böhme

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