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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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man am meisten fürchtete, die unser Vorhaben am hartnäckigsten angriffen, als die Stunde gekommen war, es dem König vorzustellen.
    Ein Kirchenmann war darunter, Diego Ortiz de Vilhegas.
    Dann der Jude Rodrigo, dessen Ruhm so groß war, dass er nur seinen Vornamen brauchte, um weithin zu leuchten; er war Kosmograph und zudem der Astrologe und Arzt der königlichen Familie.
    Und noch ein anderer Jude gehörte dazu, José Vizinho, auch er zeitweise Arzt; vor allem aber war er in ganz Europa bekannt als Meister der Algebra, einer der berühmtesten Professoren der Universität von Salamanca.
     

    Diego Ortiz de Vilhegas, der (inoffizielle) Koordinator der Mathematiker-Kommission, glaubte von ganzem Herzen an Gott und geriet jeden Tag aufs Neue in Verzückung vor Seiner Schöpfung. Das heißt, er hatte einen vertrauensvollen, wenn nicht gar liebevollen Bezug zur Wirklichkeit im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen, die nichts mehr liebten, als sich in den Frieden der Gleichungen und die Ordnung der Beweise zurückzuziehen, und täglich auf das stinkende, geschwätzige und verschwommene Chaos des Alltagsleben schimpften. Vilhegas hatte den Vorschlag gemacht, der dem König ausgezeichnet gefiel, das Komitee solle
Spaziergänge
unternehmen. Ja, einfache Spaziergänge durch die Stadt und über die angrenzenden Felder.
    «Glaubt mir, Freunde, das schlimmste Übel, den Wahnsinn, wendet man am besten ab, indem man sich vergewissert, dass bestimmte Dinglichkeiten außerhalb unserer Köpfe existieren und dass dies nicht zwangsläufig eine Bedrohung oder eine schlechte Nachricht ist.»
    Der erste Spaziergang, der sich auf das Zentrum von Lissabon beschränkte, wurde ein Albtraum für die Mathematiker und bestätigte sie in ihrer Überzeugung, Zahlen seien die einzige Gesellschaft, die sie ertragen könnten.
    Kaum waren sie aus dem königlichen Palast getreten, fielen ihre blassen Gesichter, ihre gespenstische Erscheinung, ihr verwirrter Blick, ihr steifer Gang, mit einem Wort ihre Wunderlichkeit erst zweien, dann zehn, schließlich hundert Straßenkindern auf, die sie nicht mehr in Frieden ließen. Von der Sorge getrieben, seinen Mathematikerfreunden die materielle Vielfalt der Welt ebenso wie gewisse Aspekte der Schöpfung in Erinnerung zu rufen, die sich nicht in Gleichungen unterbringen lassen – zum Beispiel Düfte und Farben –, hatte Vilhegas sich einen Rundgang ausgedacht, der über den Terreiro do Paço und damit über den Markt führte. Dieser Kopfsprung ins Konkrete dauerte nicht lange. Kaum hatte sich die Gruppe in das Labyrinth zwischen den Ständen gewagt, prasselten erst ein, dann zehn, schließlich hundert überreife Geschosse auf sie ein, unter denen sie an jenem Tag, hätte ihnen der Sinn nach Beobachtung und Klassifizierung gestanden, Birnen, Feigen, Granatäpfel, Guaven und sogar einige Eier wiedererkannt hätten. Doch sie dachten nur an Flucht. Eine Patrouille Soldaten, die das Durcheinander alarmiert hatte, befreite sie aus der Klemme.
    Doch Diego Ortiz gab sich nicht geschlagen.
    Er wiederholte das Experiment in ruhigeren Vierteln.
    Und nach und nach gewöhnte sich die Stadt an dieses Gefolge zerstreuter, in ihren Körpern gefangener Wesen. Zumal die Furcht sie nun schützte. Man wusste jetzt, welche Position sie beim König einnahmen.
    An dem Tag, einem Sonntag, als wir unseren Bericht abgeliefert hatten, der am folgenden Tag diskutiert werden sollte, erhielten auch wir eine Lektion in Sachen Wirklichkeit. Ich hatte Cristóbal überzeugt, seinem Kopf etwas Erholung zu gönnen und mich zusammenmit Diego bis zum Kap zu begleiten, wo bestimmte Familien hartnäckig aufs Meer hinausstarrten. Sie hatten sich bis an die äußerste Kante der Klippen vorgewagt. Ein Schritt weiter, und sie wären abgestürzt. Sie bildeten gleichsam eine schwarze Linie am Rande des Königreichs Portugal.
    Ich erschrak. Das Komitee kam uns entgegen. Cristóbal drehte sich weg. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, gingen die Mathematiker vorüber. Sie diskutierten. Einer fragte, woher diese Menge von Frauen komme, die ihnen die Aussicht nahmen.
    «Die Ursache sind wir», antwortete ihm ein anderer, «ja, wir. Es liegt an unseren übereilten Ratsbeschlüssen zu den Seereisen.»
    Die Gruppe blieb stehen, offenbar verdutzt von dieser Antwort.
    «Mit unseren Empfehlungen an den König schicken wir Tausende von Seemännern in die Ferne, von denen weniger als die Hälfte zurückkehrt. Infolgedessen schaffen wir eine entsprechende

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