Timm Thalers Puppen
James Krüss
DIE GESCHICHTEN DER IOI TAGE
Schaltet die Uhren an. Vergeßt die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen. Wir wollen in der Zeit zurück und vorwärts wandern, Vergangenheit und Gegenwart durchstreifen und manchmal Blicke in die Zukunft tun. Die IOI Geschichten tage meines Lebens, an denen ich Geschichten hörte oder auch erzählte, sie werden euch hier nacherzählt, vom ersten bis zum hundertersten Tag.
Der Ort, an dem ich die Geschichten in die richtige Reihenfolge bringe, ist eine Insel vor der Küste Afrikas. Hier waren einmal, so sagt man, die Glücklichen Inseln. Hier, heißt es, lagen die Gärten der Hesperiden, aus denen Herkules die goldenen Äpfel stahl. Hier war die Zeit stets anders als woanders. Hier lief man noch in Ziegenfellen oder Lendenschurzen, als Herr Kolumbus, reich gekleidet, von diesen Inseln aus Amerika entdeckte. Hier zählt die Zeit nach schönen Augenblicken. Drum haltet eure Uhren an.
Vergeßt die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen.
Ich sehe euch, wie ihr euch unter mir, im Tal der Palmen, von allen Seiten her versammelt. Ich sehe euch, wie ihr euch auf die Felsen setzt, erwartungsvoll. Ich sehe euch sitzen mit baumelnden Beinen auf der anderen Seite der Schlucht, in mein Gehäuse auf dem Dache niederblickend mit gespannten Mienen. Auch auf den Mauern und Terrassen meines Hauses sehe ich euch sitzen, und alle Fenster meiner Bücherbude sind für euch geöffnet. Der Tag ist schön. Die Kaktusfeigen blühen. Und wenn ein Dröhnen euch erschreckt, dann ist es nur der Fischmann: Er bläst auf seiner Muschel und zieht weiter.
Wenn aber über dem Tal der Mond aufgeht, schlaft ein: Ihr werdet euch in euren eigenen Betten wiederfinden. Doch wollt ihr wiederkommen, dann schlagt die Bücher der 101 Geschichten wieder auf. Dann sitzt ihr wieder unter oder über mir im Tal und auf den Felsen, und heute ist gestern, und gestern ist heute.
Vergeßt die Zeit, die man Geschichte nennt. Taucht ein in die Zeit der Geschichten. Auch ich, der vor euch sitzt, vergesse die Zeit. Ich sitze unter euch, ein müder Reisender, der in Tirol aus seinen Büchern vorgelesen hat, um euch zu erzählen, wie es in den Tagen des Wohlstands war. Kommt mit zur schönsten Stadt der Welt, kommt mit mir nach Venedig und laßt euch die Geschichten des sechzigsten bis sechsundsechzigsten Tages erzählen. Fragt ihr mich aber, wer euch in Venedig erwartet, dann findet ihr im Buch die Antwort; denn ihr lest:
Timm Thalers Puppen
oder Die verkaufte Menschenliebe
Geschichten aus den Tagen des Wohlstands
Vom sechzigsten bis zum
sechsundsechzigsten Tag
erzählt von James Krüss
und mit Bildern versehen von
Rolf Rettich
Otto Maier Ravensburg
VORSPIEL
Es war im Zuge von Verona nach Venedig, in einem
schnellen, leisen Zug mit weichen Polstern, in dem ich, in Fahrtrichtung an einem Fenster sitzend, vor mich hindöste. Ich kam von einer Lesereise durch Tirol.
Mir gegenüber, unter einem großen schwarzen Koffer, saß ein Herr mittleren Alters mit verschwommenen Zügen, der eine Sonnenbrille trug. Ich sah ihn wie durch graue Schleier, wenn ich im Halbschlaf dann und wann die Augen öffnete.
Ich war in diesem Zuge unterwegs zu einem pensionierten Kapitän namens Carlos, der an Venedigs Strand, am Lido, leben sollte, mit einer eigenen Yacht vor seiner Tür. Kapitän Carlos, hatte ich erfahren, wußte ein wenig über jene Glücklichen Inseln, nach denen ich seit Jahren auf der Suche war.
Während ich in den Polstern vor mich hindöste, dem
pensionierten Kapitän entgegenratternd, begann der Herr mir gegenüber leise zu reden. Ich hörte ihn sagen: »Es lebt sich schön auf einer Yacht. Leute, die schweigen können, können sich auch Yachten leisten.«
Mir war, als hätte ich etwas Ähnliches schon einmal gehört, Jahre vorher, in einer anderen Gegend, doch ebenfalls in einem Zugabteil. Doch konnte ich mich im Halbschlaf nicht erinnern, wo und wann. Es war mir auch nicht wichtig. So döste ich beim eintönigen leisen Rattern weiter vor mich hin, während der Fremde halblaut weitersprach. Ich hörte nur mit halbem Ohre hin, doch ich vernahm es.
»Ein Haus am Meer und eine Yacht dazu«, vernahm ich,
»dazu ein Bankkonto, das niemals leer wird, das alles gibt es, wenn man schweigen kann.«
Ich konnte mir beim Dösen keinen Reim auf die
Bemerkung machen, und ich tat’s auch nicht, vor allem, weil ich jetzt durch etwas anderes abgelenkt wurde: Rechts, nah vorbei an meinem Fenster, überholte uns
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