Cronin, Justin
wusste Jeanette, und sie schliefen
oder kochten oder lasen oder beteten, was Nonnen vermutlich oft taten, vielleicht
sogar die meiste Zeit. Still genug war es ja. Jetzt musste sie eine Ausrede
finden, um die Frau mit Amy allein zu lassen. Das wusste sie, wie sie wusste,
dass sie in der vergangenen Nacht einen Jungen umgebracht hatte. Was sie jetzt
vorhatte, war noch schmerzhafter, aber ansonsten nicht anders - nur noch mehr
Schmerz an derselben Stelle.
»Miss ...?«
»Oh, nennen Sie mich einfach Lacey«, sagte die
Frau. »Wir sind hier nicht so förmlich. Ist das Ihre kleine Tochter?« Sie
kniete vor Amy. »Hallo, du, wie heißt du denn? Ich habe eine kleine Nichte in
deinem Alter, die ist fast so hübsch wie du.« Sie schaute zu Jeanette hoch.
»Ihre Tochter ist sehr schüchtern. Vielleicht liegt es an meinem Akzent.
Wissen Sie, ich bin aus Sierra Leone in Westafrika.« Sie wandte sich wieder an
Amy und nahm ihre Hand. »Weißt du, wo das ist? Es ist sehr weit weg.«
»Sind alle Nonnen hier von dort?«, fragte
Jeanette.
Die Frau stand auf. Sie lachte und zeigte dabei
ihre weißen Zähne. »Du meine Güte, nein! Ich bin die Einzige.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Jeanette
mochte diese Frau, und sie hörte ihre Stimme gern. Es gefiel ihr, wie sie mit
Amy umging und wie sie ihr in die Augen schaute, wenn sie mit ihr sprach.
»Ich wollte sie schnell noch zur Schule
bringen«, erzählte Jeanette. »Aber mein altes Auto ... ? Das Ding ist einfach
stehen geblieben.«
Die Frau nickte. »Bitte. Kommen Sie.«
Sie führte Jeanette und Amy durch einen Korridor
in die Küche, einen großen Raum mit einem mächtigen Esstisch aus Eichenholz und
Schränken mit Schildern an den Türen: »Geschirr« und »Konserven« und »Reis und
Nudeln«. Jeanette hatte noch nie daran gedacht, dass Nonnen auch aßen. Bei all
den Nonnen, die hier wohnten, war es vermutlich nicht verkehrt, alles zu
beschriften. Die Frau zeigte auf das Telefon. Es hing an der Wand, ein alter
brauner Apparat mit einer langen Schnur. Den nächsten Schritt hatte Jeanette
sich genau überlegt. Sie wählte eine Nummer, während die Frau einen Teller
Kekse für Amy brachte - keine gekauften, sondern welche, die jemand gebacken
hatte. Eine Tonbandstimme am anderen Ende erzählte ihr, heute sei mit bewölktem
Himmel und vereinzelten Schauern gegen Abend zu rechnen, die Höchsttemperaturen
lägen bei dreizehn Grad, und sie tat, als rede sie mit der Pannenhilfe, und
nickte dabei mit dem Kopf.
»Der Abschleppwagen kommt«, sagte sie, als sie
eingehängt hatte. »Er hat gesagt, ich soll draußen auf ihn warten. Zufällig
wäre einer gleich um die Ecke.«
»Na, das ist doch prima!« Die Frau strahlte.
»Heute ist Ihr Glückstag. Wenn Sie wollen, können Sie Ihre Tochter bei mir
lassen. Wäre nicht gut, wenn Sie auf einer verkehrsreichen Straße auf sie
aufpassen müssten.«
Das war es. Jeanette brauchte gar nichts weiter
zu tun. Sie musste nur noch ja sagen.
»Macht das keine Umstände?«
Die Frau lächelte. »Wir kommen zurecht. Nicht
wahr?« Sie schaute Amy aufmunternd an. »Sehen Sie? Sie ist ganz zufrieden.
Gehen Sie, und kümmern Sie sich um Ihren Wagen.«
Amy saß auf einem Stuhl an dem großen
Eichenholztisch, vor sich den unberührten Teller mit den Keksen und ein Glas
Milch. Sie hatte ihren Rucksack abgenommen und hielt ihn auf dem Schoß.
Jeanette schaute sie an, so lange sie sich traute, und dann kniete sie bei ihr
nieder und nahm sie in die Arme.
»Sei schön brav«, sagte sie, und Amy nickte an
ihrer Schulter. Jeanette wollte noch etwas sagen, aber sie fand keine Worte.
Sie dachte an den Zettel, den sie in den Rucksack gesteckt hatte, das Blatt,
das sie sicher finden würden, wenn sie nicht zurückkäme, um Amy zu holen. Sie
umarmte sie so lange, wie sie es wagen durfte. Sie fühlte Amy um sich herum,
die Wärme ihres Körpers und den Duft ihrer Haare und ihrer Haut. Sie wusste,
gleich würde sie weinen, und das durfte die Frau - Lucy? Lacey? - nicht sehen,
aber sie umarmte Amy doch noch einen Augenblick länger und versuchte, dieses
Gefühl in ihrem Innern zu bewahren, irgendwo, wo es sicher war. Dann ließ sie
ihre Tochter los, und bevor jemand ein Wort sagen konnte, ging Jeanette aus
der Küche und aus dem Haus und durch die Einfahrt zur Straße, und dann ging sie
immer weiter.
2
Auszug aus den E-Mails von
Dr. Jonas Abbott Lear
Professor für Molekular- und Zellularbiologie an
der Harvard University Abgeordnet an das United
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