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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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nicht, wie das gehen sollte.
Musste der nie zur Schule? Hatte er keine Hausaufgaben zu machen? Wann schlief
der kleine Scheißer?
    Richards' Büro war wie alle unterirdischen Räume
auf dem Gelände kaum mehr als eine von Leuchtstofflampen erhellte Schachtel, in
die alles hineingepumpt wurde. Sogar das Licht wirkte recycelt. Es war kurz
nach halb drei morgens, aber Richards kam mit weniger als vier Stunden Schlaf
pro Nacht aus, schon seit Jahren, und deshalb achtete er nicht darauf. An der
Wand über seinem Arbeitsplatz zeigten drei Dutzend Monitore mit Zeitstempel
jeden Winkel auf dem Gelände - von den Wachtposten, die sich am vorderen Tor
den Arsch abfroren, über die verlassene Kantine mit ihren leeren Tischen und
dösenden Getränkeautomaten bis hinunter zu den geschlossenen Abteilungen für
die Probanden, zwei Stockwerke unter ihm, mitsamt ihren leuchtenden, infektiösen
Insassen. Noch tiefer, weitere fünfzehn Meter durch das Gestein, befanden sich
die Nuklearzellen, mit denen alles betrieben wurde und die noch hundert Jahre
das Licht brennen und den Strom fließen lassen würden - plus/minus ein
Jahrzehnt. Er hatte gern alles da, wo er es mit einem Blick erfassen konnte wie
seine FreeCell-Karten. Manchmal nahmen sie zwischen fünf und sechs Uhr morgens
eine Lieferung in Empfang, und deshalb konnte er genauso gut gleich die ganze
Nacht aufbleiben. Die Versorgung der Probanden dauerte maximal zwei Stunden,
und danach könnte er immer noch ein Nickerchen am Schreibtisch machen, wenn es
sein musste.
    Dann sah er die Lösung auf seinem Bildschirm.
Genau da, unter der Sechs: die schwarze Dame, die er verschieben musste, um den
Buben wegzubekommen und die Zwei legen zu können und so weiter. Zwei Klicks,
und es war vorbei. Die Karten flogen über den Monitor wie die Finger eines
Pianisten.
    Möchten Sie weiterspielen?
    Verdammt, und ob.
    Denn dieses Spiel war der natürliche Zustand der
Welt. Das Spiel war Krieg - und wann, bitte schön, gab es keinen Krieg, der einen Mann wie Richards in Lohn und Brot hielt?
Wenigstens irgendwo? Die letzten zwanzig Jahre waren gut zu ihm gewesen, eine
einzige lange Nacht am Spieltisch, mit lauter guten Karten: Sarajewo, Albanien,
Tschetschenien. Afghanistan, Irak, Iran. Syrien, Pakistan, Sierra Leone,
Tschad. Die Philippinen und Indonesien und Nicaragua und Peru.
    Richards erinnerte sich an den Tag - an diesen
glorreichen und schrecklichen Tag -, als er gesehen hatte, wie die Flugzeuge in
die Türme gerast waren. In einer Endlosschleife war das Bild wiederholt worden.
Die Feuerbälle, die in die Tiefe stürzenden Gestalten, die Verflüssigung von
Millionen Tonnen Stahl und Beton, die wallenden Staubwolken. Die machtvolle
Ejakulation des neuen Jahrtausends, die ultimative Reality Show, vierundzwanzig
Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche gesendet. Richards war in Jakarta
gewesen, als es passierte; er wusste gar nicht mehr, warum. Damals hatte er es
sofort gedacht - nein, es war ihm instinktiv klar gewesen: Natürlich musste man
dem Militär etwas zu tun geben, verdammt, sonst würden die sich einfach
gegenseitig über den Haufen schießen. Aber von diesem Tag an war es vorbei mit
der alten Methode, die Dinge zu regeln. Der Krieg - der wahre Krieg, der seit
tausend Jahren im Gange war und noch tausend Jahre weitergehen würde, der
Krieg zwischen uns und ihnen, zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen,
zwischen meinen Göttern und deinen Göttern, wer immer du bist - würde von
Männern wie Richards geführt werden: von Männern mit einem Gesicht, das man
nicht bemerkte und an das man sich nicht erinnerte, gekleidet als Hilfskellner
oder Taxifahrer oder Postboten, mit Schalldämpfern im Ärmel. Er würde von
jungen Müttern geführt werden, die zehn Pfund C4 im Kinderwagen vor sich
herschoben, von Schulmädchen, die mit Sarin-Ampullen in ihren Rucksäcken in die
U-Bahn stiegen. Er würde von der Ladefläche eines Pick-ups geführt werden, aus
einem nichtssagend anonymen Hotelzimmer in der Nähe eines Flughafens, aus
Höhlen in den Bergen in der Nähe von gar nichts. Er würde auf Bahnsteigen und
Kreuzfahrtschiffen stattfinden, in Einkaufszentren und Kinos und Moscheen, auf
dem Land und in der Stadt, im Dunkeln und bei Tag, im Namen Allahs oder des
kurdischen Nationalismus, der Juden für Jesus oder der New York Yankees - die
Themen hatten sich nicht geändert und würden es auch nie tun, denn wenn man den
Bullshit verdampfte, ging es immer nur um irgendjemandes

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