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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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überlegte,
was es sein mochte. Es sah wie ein Jux aus. Vielleicht wollte ihn sein Vater
auf den Arm nehmen, ihm einen kleinen Streich spielen. Grey lief die Verandatreppe
hinunter und quer durch den Vorgarten. Der Schnee drang in seine Turnschuhe,
aber er wandte den Blick nicht von dem Truck, der ihn jetzt mit Sorge erfüllte,
als sei es nicht der Schnee, der ihn geweckt hatte, sondern etwas anderes. Der
Motor lief und blies einen grauen Abgasschwaden über die verschneite Einfahrt,
und die Windschutzscheibe war beschlagen von Wärme und Feuchtigkeit. Er sah
eine dunkle Gestalt, die an dem Fenster lehnte, wo der rote Fleck war. Greys
Hände waren klein, und er hatte keine Kraft, aber er schaffte es trotzdem, er
öffnete die Fahrertür, und sein Daddy kippte an ihm vorbei in den Schnee.
    Grey. Schau. Schau mich an.
    Er war mit dem Gesicht nach oben gelandet. Ein
Auge war auf Grey gerichtet, im Grunde jedoch auf gar nichts, das sah Grey
sofort. Das andere Auge war weg. Weg wie die ganze Seite des Gesichts, als habe
es sich irgendwie von innen nach außen gekehrt. Grey wusste, was »tot« war. Er
hatte Tiere gesehen, die zerfetzt am Straßenrand lagen - Opossums, Waschbären,
manchmal Katzen oder sogar Hunde -, und das hier war genau so. Aus und vorbei.
Die Pistole war noch in Daddys Hand, und der Finger krümmte sich durch das
kleine Loch, wie er es Grey an jenem Tag auf der Veranda gezeigt hatte. Hier,
siehst du, wie schwer sie ist? Du darfst nie mit einer Pistole auf jemanden
zielen. Und überall war Blut, vermischt mit anderem
Zeug, mit kleinen Fleischstücken und weißen Splittern von etwas
Zerschmettertem, überall auf Daddys Gesicht und seiner Jacke und dem Sitz und
der Innenseite der Tür. Grey konnte es riechen, so stark, dass der Geruch die
Innenseite seines Mundes überzog wie eine schmelzende Pille. Grey.
Grey. Ich bin hier.
    Die Szene veränderte sich. Grey spürte Bewegung
um sich herum, als dehne und strecke sich die Erde. Etwas an dem Schnee war
anders. Der Schnee hatte angefangen, sich zu bewegen, und als er aufblickte, sah er keinen Schnee mehr, sondern
Kaninchen: Tausende und Abertausende weißer, flauschiger Kaninchen, alle
Kaninchen der Welt, so dicht zusammengedrängt, dass man quer durch den Garten
gehen konnte, ohne den Boden zu berühren. Der Garten war voll von Kaninchen.
Und sie wandten ihm ihre sanften Gesichter zu, richteten ihre kleinen schwarzen
Augen auf ihn, weil sie ihn kannten, weil sie wussten, was er getan hatte,
nicht mit Roy, sondern mit den anderen, mit den Jungen, die mit ihren Ranzen
von der Schule nach Hause gingen, den Nachzüglern, mit denen, die allein
unterwegs waren. Und jetzt wusste Grey, dass es auch nicht mehr sein Daddy war,
der da im Blut lag. Es war Zero, und Zero war überall, Zero war in ihm, zerriss
und zerfetzte ihn, weidete ihn aus wie die Kaninchen, und Grey öffnete den
Mund, um zu schreien, aber er brachte keinen Laut hervor.
    Grey Grey Grey Grey Grey Grey Grey.
     
    In seinem Büro auf Ebene zwei saß Richards an
seinem Computer, in eine Partie FreeCell vertieft. Spiel Nummer 36592, das
musste er zugeben, machte ihn fertig. Er hatte es schon ein Dutzend Mal
gespielt und war immer dicht davor gewesen, hatte aber nie herausgefunden, wie
er seine Reihen aufbauen musste, wie er die Asse aus dem Weg räumen sollte, um
die roten Achten freizubekommen. In dieser Hinsicht erinnerte es ihn ein
bisschen an Spiel Nummer 14712, wo es auch nur um die roten Achten ging. Um das
zu knacken, hatte er fast einen ganzen Tag gebraucht.
    Aber jedes Spiel war zu gewinnen. Das war das
Schöne an FreeCell. Das Blatt war ausgelegt, und wenn man es richtig anschaute,
wenn man die richtigen Züge machte, einen nach dem andern, dann hatte man das
Spiel über kurz oder lang in der Tasche. Ein triumphierender Mausklick, und
sämtliche Karten segelten nach oben auf den Stapel. Richard bekam nie genug
davon, und das war gut so, denn er hatte immer noch 91048 Spiele vor sich,
dieses hier eingerechnet. In Washington State gab es einen zwölfjährigen
Bengel, der behauptete, in knapp vier Jahren nacheinander jedes Spiel - auch
64 523, das Megamonster - gewonnen zu haben. Das waren achtundachtzig Spiele
pro Tag, auch an Weihnachten, Silvester und am 4. Juli. Angenommen der Junge
hatte sich ab und zu einen Tag freigenommen, um zu tun, was Kids so taten, oder
auch nur, weil er eine ordentliche Erkältung hatte, dann kam man wahrscheinlich
auf über hundert Partien pro Tag. Richards begriff

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