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Cyber City

Cyber City

Titel: Cyber City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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Lichtstrahlen, die die einzelnen Zapfen und Stäbchen seiner simulierten Netzhäute erregten, wurde in seine virtuelle Umgebung zurückverfolgt – damit stand fest, was gerade zu berechnen war. Und das beinhaltete eine Menge Details im Zentrum seines Blickfelds – und eine ganze Menge weniger an der Peripherie. Gegenstände, die sich »außer Sicht« befanden, waren darum noch lange nicht aus der Welt, soweit sie durch Reflexion die Lichtverhältnisse insgesamt beeinflußten, doch Paul wußte nur zu gut, daß die Berechnungen für ihre Simulation kaum weiter als bis zu einer ersten Näherung gingen: Hieronymus Boschs Garten der Lüste als bloßes Rechteck mit einem mittleren Helligkeitswert, eine gleichmäßig graugetönte Fläche – alles andere wäre pure Verschwendung, wenn er dem Bild erst seinen Rücken zugekehrt hatte. Alles in diesem Zimmer war, zur rechten Zeit, fein genug strukturiert, um ihn zu täuschen. Nicht mehr und nicht weniger.
    Er wußte das alles, die technischen Einzelheiten waren ihm seit vielen Jahren vertraut. Trotzdem. Die unmittelbare Erfahrung war etwas völlig anderes. Er widerstand der Versuchung, blitzschnell herumzuwirbeln, nur um zu sehen, wie weit die Technik sich überlisten ließ – ein überflüssiges und vergebliches Spiel, aber für einen Augenblick erschien es ihm einfach unerträglich, nur zu wissen, was sich am Rand seines Gesichtsfeldes ereignete. Die Tatsache, daß sich ihm jederzeit ein Bild dieses Zimmers ohne Fehler und Makel bieten würde, machte es nur schlimmer, ließ es zur fixen Idee werden: So schnell du deinen Kopf auch drehst, du wirst nie merken, was tatsächlich um dich herum geschieht …
    Erneut schloß er die Augen. Als er sie nach einer Weile wieder öffnete, war das Gefühl ein wenig erträglicher geworden. Es würde sich mit der Zeit ganz legen, da war er sicher. Sein Gemütszustand war einfach zu verrückt, um lange anhalten zu können. Tatsächlich hatte noch keine der früheren Kopien etwas in dieser Art beschrieben … was immer das heißen mochte, denn sie hatten überhaupt noch nie verläßliche, brauchbare Informationen geliefert. Ihre Reaktionen waren Vorwürfe und Klagen gewesen; sie beschwerten sich, nur benutzt zu werden, haderten in einem fort mit ihrem Schicksal, bis hin zu jenem Augenblick, an dem sie sich selbst löschten – alles innerhalb fünfzehn (subjektiver) Minuten, nachdem sie das Bewußtsein erlangt hatten.
    Und wie stand es mit dieser hier? Wie unterschied er sich von Kopie Nummer vier? Er war drei Jahre älter. Und hartnäckiger? Entschlossener? Den Erfolg um jeden Preis suchend? Wahrscheinlich. Wenn er sich diesmal nicht mehr vorgenommen hätte, wenn er nicht völlig überzeugt gewesen wäre, daß er nun endlich bereit war, alles zu erfahren – dann hätte er den Scan erst gar nicht machen lassen.
    Aber jetzt, da er nicht länger der Paul Durham aus Fleisch und Blut war – nicht länger derjenige, der von draußen, aus sicherem Abstand, das Experiment beobachtete –, da schien sich mit einem Mal seine Entschlossenheit in Luft aufgelöst zu haben.
    Jetzt auf einmal fiel ihm ein: Was macht mich denn so sicher, daß ich nicht immer noch aus Fleisch und Blut bin? Er lachte bitter, dachte nicht daran, diese Möglichkeit ernsthaft zu erwägen. Seine letzten Erinnerungen zeigten ihn auf der Fahrtrage der Landau-Klinik liegend, während die Techniker ihn für den Scan vorbereiteten – direkt vor dem Gerät, kein gutes Zeichen! –, aber er war so angespannt und überreizt gewesen, hatte sich so lange selbst zugeredet, es zu tun, daß er am Ende vielleicht vergessen hatte, wie er nach Hause gekommen war. Und jetzt lag er wahrscheinlich noch benommen von der Narkose in seinem Bett und träumte wirres Zeug …
    Er murmelte das Paßwort, Abulafia – und die letzte, schwache Hoffnung schwand. Das fast einen Meter breite Rechteck mit den schwarzen Sinnbildern auf weißem Grund wuchs aus dem Nichts und hing regungslos vor ihm in der Luft.
    Er versetzte dem Interfacefenster einen ärgerlichen Stoß, doch es rührte sich nicht, als wäre es materiell und fest in der Luft verankert. Als wäre auch er selbst aus fester Materie. Das hätte eigentlich genügen müssen, ihn zu überzeugen. Trotzdem griff er nach dem oberen Rand des Fensters und zog sich daran hoch. Sogleich bereute er den Kraftakt; er war von einem ganzen Spektrum durchaus realistischer Sinneseindrücke begleitet – einschließlich eines schmerzenden Stechens im rechten

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