Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
1
Nord-Tansania, Ostafrika
A ngel ruckte kurz am Strick des Kamels, um sich zu vergewissern, dass der Knoten um den Baumstamm noch fest war. Das Kamel senkte den Kopf und fuhr mit den Lippen sanft über das Ohr des Mädchens. Angel lächelte und klopfte dem Tier auf den Hals. Sie schaute zu der Stelle im Schatten, wo sie die Milchschale hingestellt hatte. Der Anblick der süßen, schaumigen Milch – so weiß vor dem dunklen Holzrand – erinnerte sie daran, wie hungrig sie war. Rasch band sie das Kamelkalb los, das in der Nähe an seinem Strick zerrte.
Kaum hatte sie es befreit, rannte es zu seiner Mutter und stupste ungeduldig an ihr Euter. Die Kamelstute nahm keine Notiz von ihm. Auch das Gewicht der Taschen und Decken auf ihrem Packsattel schien sie nicht zu stören. Sie interessierte sich nur für die zarten Blätter an den Spitzen der Dornenakazien. Sie schloss ihre dicken Lippen darum, riss sie ab und zermalmte sie im Maul.
»Du bist ganz schön gierig, Mama Kitu«, sagte Angel und lächelte das Kalb an, das grunzend trank. »Und du auch, Matata.«
Sie wandte sich von den Kamelen ab und ergriff die Milchschale. Mit beiden Händen hielt sie sie fest, während sie den leichten Abhang zu einer Felsgruppe hinunterlief. Trotz ihrer nackten Füße bewegte sie sich leichtfüßig über die scharfen Steine. An den Felsen blieb sie stehen und blickte auf die trockene Savanne. Es war früh, und die Sonne stand noch tief am Horizont. Die ersten Strahlen, die durch die staubige Luft drangen, legten Farbe über das Land. Der Boden schimmerte gelb, und ein goldener Glanz lag auf den Felsen, deren Spitzen rosa leuchteten. Die Schatten dazwischen waren tiefbraun und blassviolett.
Angel hob den Blick zum fernen Horizont und schaute auf den Pyramiden-Berg, der sich über der Ebene erhob. Blauer Dunst umgab die Hänge, und die weiße Lava auf dem Gipfel sah aus wie Schnee. Er markierte die Richtung, in die sie zogen. Angel wusste, dass er jeden Tag genau zwischen Mama Kitus Ohren vor ihnen lag.
Ol Doinyo Lengai, der Gottesberg der Massai.
Angel ging um die letzten Felsen herum und trat zu ihrer Mutter, die im Schneidersitz neben einem großen flachen Stein auf dem Boden saß. Der Stein sah aus wie ein Tisch, fast so, als sei er hier aufgestellt worden, damit Reisende Rast machen und die Aussicht bewundern konnten. Laura trug eine einfache Baumwolltunika und eine Hose wie Angel, aber sie hatte sich außerdem noch einen gemusterten Schal um den Kopf geschlungen. Gerade beugte sie sich vor, um Fliegen von den Fladenbroten und den Datteln zu verscheuchen, die sie auf den Stein gelegt hatte.
Angel hielt ihr die Schale mit Milch hin.
»Danke.« Laura hob die Schale an ihren Mund und trank. Als sie sie wieder sinken ließ, waren ihre Lippen von weißem Milchschaum eingerahmt. »Kein Schmutz«, sagte sie anerkennend.
»Ich habe aufgepasst, dass kein Sand hineinkommt.«
»Das hast du gut gemacht.«
»Ich bin ja auch kein kleines Kind mehr«, erklärte Angel. »Und sieh mal …« Sie grinste breit und wackelte mit der Zunge an einem losen Vorderzahn.
Laura beugte sich vor und betrachtete ihn eingehend. »Ich muss ihn dir herausziehen.«
»Nein.« Angel schüttelte den Kopf.
»Aber nachher verschluckst du ihn noch«, warnte Laura. »Und dann kann die Zahnfee nicht kommen.«
Angel blickte sie verwirrt an. »Was ist denn eine Zahnfee?«
Laura ergriff eines der Fladenbrote und reichte es Angel, zusammen mit der Milchschale. »In England erzählen die Eltern ihren Kindern, dass die Zahnfee ihn mitnimmt, wenn sie nachts einen Zahn unter ihr Kopfkissen legen, und stattdessen Geld zurücklässt.«
»Hast du das auch gemacht?«, fragte Angel. »Und ist sie gekommen?«
»Manchmal«, erwiderte Laura. »Allerdings nicht jedes Mal.« Während sie sprach, nahm sie ihren Schal ab. Es war ein Stück kitenge, das früher einmal leuchtend bunt gewesen war, jetzt aber ausgeblichen und am Rand ausgefranst und zerrissen war. Ihre langen Haare – ebenso strohblond wie die ihrer Tochter – fielen ihr bis über die Schultern. Die Strähnen waren verfilzt und staubig. Sie fuhr mit den Fingern durch, band das Tuch wieder darum und steckte ein paar lose Strähnen unter den Stoff. Dann blickte sie Angel an. »Was ist los?«
Das Kind runzelte die Stirn. »Wir haben kein Kopfkissen.«
»Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen – ich glaube, es gibt hier auch keine Zahnfeen.«
Angel kniff nachdenklich die Augen
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