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Cyberabad: Roman (German Edition)

Cyberabad: Roman (German Edition)

Titel: Cyberabad: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McDonald
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habe hineingeschaut«, flüstert Thomas Lull. »Als wir heranflogen, habe ich hineingeschaut. Es ist das Tabernakel.«
    Aber wie?, will Lisa Durnau fragen, doch Thomas Lull lässt sich wieder auf den Rücken fallen. Er hält die gefesselten Hände vor den kleinen Bauch und starrt ins Licht der Sonne hinauf.
    »Sie hat ihnen gezeigt, dass es hier keinen Platz für sie gibt«, sagt er. »Nur Menschen, nur verdammte Menschen. Ich würde gern glauben, dass sie eine Entscheidung getroffen hat, für die Menschen. Für uns. Obwohl ... Obwohl ...«
    Lisa Durnau sieht, wie sein Körper zittert, und weiß, dass das, was unter den Tränen verborgen ist, bald zutage treten wird. So etwas hat sie noch nie erlebt. Sie wendet den Blick ab. Sie hat schon einmal in die Augen dieses Mannes gesehen, als er völlig am Boden zerstört war, und das reicht ihr für dieses Leben.
    Mr. Nandha hätte liebend gern mit einem Finger seinen Kragen gelockert. Die Hitze im Korridor ist erdrückend, denn die Aircondition-Kaih folgt der Firmenphilosophie von Ray Power, im Namen der Energieeffienz nur zögernd auf plötzliche Veränderungen des Mikroklimas zu reagieren. Aber die Sonne ist durch die Monsunwolken gebrochen, und die gläserne Front von Mr. Nandhas Einsatzzentrale ist zu einem Schwitzkasten geworden. Sein Anzug ist zerknittert. Seine Haut ist vor Schweiß wächsern. Er befürchtet, einen unangenehmen Körpergeruch zu verströmen, den seine Vorgesetzten wahrnehmen werden, sobald er Aroras Büro betritt.
    Mr. Nandha glaubt, Blut an den Schuhen zu haben.
    Aircondition-Kaihs. Selbst in den Luftschächten lauern Djinns. Von seinem Platz aus kann er auf seine Stadt hinabblicken, wie er es jedes Mal getan hat, wenn er sie als Orakel benutzt hat. Jetzt schweigt sie. Mein Varanasi wurde Djinns überlassen, denkt er.
    Wolken bewegen sich, Lichtstrahlen wandern. Mr. Nandha zuckt zusammen, als in den grünen Vorstädten im Westen plötzlich ein greller Schein aufflackert. Ein Heliograph, nur für sein Auge gedacht, von der hundert Meter durchmessenden Hemisphäre, die von einer fremdartigen Raumzeit geschaffen wurde, wo sich zuvor die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Ray Power befand. Präzise bis hinunter zum Quantenniveau, ein perfekter Spiegel. Er weiß es, weil er dort gestanden und immer wieder auf sein verzerrtes Spiegelbild gefeuert hat, immer wieder, bis Vik ihn zu Boden rang und ihm die Götterwaffe aus der Faust riss. Vik in seinen zischenden, schlecht sitzenden Rock-Boi-Schuhen.
    Er sieht die ganze Zeit ihre Schuhe vor sich, ordentlich zu Paaren aufgereiht wie betende Hände.
    Hinter Aroras Tür werden sie sich auf eine Version einigen. Überschreitung seiner Kompetenzen. Exzessive Gewalt. Gefährdung der Öffentlichkeit. Der Energieminister in Handschellen ... Disziplinarstrafen. Suspendierung vom Dienst. Natürlich. Sie müssen es tun. Aber sie wissen nicht, dass sie ihm jetzt gar nichts mehr anhaben können. Mr. Nandha spürt, wie die Säure langsam seine Speiseröhre verätzt. So viele Enttäuschungen. Seine Vorgesetzten, sein Magen, seine Stadt haben ihn verraten. Er löscht die treulosen Shikharas und Mandapas von Varanasi aus, stellt sich die Campanili und Piazze und Duomi von Cremona vor. Das Cremona des Geistes, die einzige ewige Stadt. Die einzige wahre Stadt.
    Die Tür geht auf. Arora lugt nervös nach draußen, wie ein Vogel aus einem Nest.
    »Sie können jetzt hereinkommen, Nandha.«
    Mr. Nandha steht auf, zupft die Jacke und die Manschetten zurecht. Als er auf die offene Tür zugeht, ertönen in seinem Kopf die Eröffnungstakte der ersten Cello-Sonate von Bach.
    In einem dunklen Raum im Herzen eines Tempels einer dunklen Göttin, mit Blut beschmiert und mit der Asche toter Menschen bestäubt, schaukelt ein alter Mann im Schneidersitz auf dem knochigen Hintern vor und zurück und lacht und lacht und lacht und lacht.

47 Lull, Lisa
    Am Abend weht ein Wind vom Fluss heran wie ein kühler Atemhauch. Er fegt über die Ghats, wirbelt den Staub auf und treibt Tagetesblütenblätter über den vom Tag gewärmten Stein. Er schüttelt die Zeitungen der alten Witwer, die wissen, dass sie nie wieder heiraten werden, die zu den Ghats herunterkommen, um mit ihren Freunden über die Schlagzeilen des Tages zu reden, er zerrt an den Falten und Schleppen der Frauensaris. Er lässt die Ghee-Flammen der Diyas flackern, zerzaust die Oberfläche des Flusses zu kleinen Kräuselwellen, während die Badenden das Wasser mit ihren Kupferschalen

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