Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
eitel.
Eitle Journalisten halten sich für mindestens ebenso bedeutend wie ihre prominenten Interviewpartner. Wenn diese Vermutung von Marcel Reich-Ranicki als Beweis für Eitelkeit herhalten muss, bin ich ganz sicher nicht eitel.
Wenn man bei Google nur Christine eingibt, erscheint sofort und als erster Recherchevorschlag »Christine Westermann«. Hast Du das gewusst?
Nein, habe ich natürlich nicht gewusst. Ich nutze Google, um herauszufinden, wie viele Einwohner Detmold hat, weil ich das gerade für eine Recherche brauche.
Nach meinem Namen gucken? Auf die Idee bin ich noch nicht gekommen.
Warum eigentlich nicht?
Wirklich? Das glaube ich nicht! Bei Christine kommt Christine Westermann? Finde ich ziemlich gut, verschafft mir jetzt einen Satz roter Ohren. Ist ein bisschen zu viel der Ehre, oder?
Das kam jetzt vom Einflüsterer, hat er mir praktisch in den Mund gelegt.
Zum Schluss der alte Trick, die »Machen-Sie-den-folgenden-Satz-mal-zu-Ende«-Frage: Wenn ich noch
mal 20 wäre, dann würde ich …?
Du meinst, würde ich alles noch einmal genauso machen? Würde ich. Weil die kleinen und großen Katastrophen, die Niederlagen, die Zweifel und die Unsicherheit genauso dazugehören wie die Wunder, die Siege, der Übermut, das große und das kleine Glück. Ja. Ich möchte es noch mal so haben.
Und während ich das so sage, sehe ich ihn reichlich unscharf, aber immerhin, ich sehe ihn vor mir, jenenWeg, den ich in den letzten fünfundvierzig Jahren zurückgelegt habe. Im Berufsleben. Im Liebesleben. Im Leben überhaupt. Sehr überraschend schwappen in diesem Augenblick Freude und Dankbarkeit nach oben.
Nur mal angenommen, es lägen jetzt noch zwanzig Jahre vor mir. Was könnte ich da noch alles reinpacken! Und vielleicht fragt mich dann 2033 ein Journalist: Möchten Sie noch mal 65 sein?
Vielleicht werde ich ihm antworten:
»Och nöö, bitte nicht. Mit 65, wissen Sie, da hatte ich doch keine Ahnung, was noch alles kommen würde. Wie spannend und bunt es im Alter noch werden kann. Jetzt bin ich 85, mal sehen, was noch geht.«
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. Vielleicht haben Sie noch Fragen an Christine Westermann, die mir nicht eingefallen sind und die für alle interessant sind.
Nein, die Businessfrauen wollen nichts mehr wissen, der Kollege hat schon alle wichtigen Fragen gestellt. Ich bin erschöpft, es strengt an, Auskunft über sein Leben zu geben.
Ich trinke noch einen mit den Frauen, fahre nach Hause und mache den Rechner an. Gebe bei Google das Stichwort »Christine« ein.
Christine ist ein weiblicher Vorname. Er leitet sich von dem griechischen Wort christos (der Gesalbte) ab und bedeutet im übertragenen Sinne: die Christin.
Christine war Anfang der Sechzigerjahre des letztenJahrhunderts einige Male unter den zehn beliebtesten Vornamen. Die Verbreitung des Namens nahm jedoch in der Mitte der Achtzigerjahre stark ab.
Irgendwie bin ich sehr froh, dass beim Googeln nur mein Vorname an erster Stelle steht.
Doch, wirklich. Auch wenn er offensichtlich schon ziemlich veraltet ist. Geht seiner Trägerin nicht anders.
23
E r ist ein knorriges Stück Holz. Mehr nicht. Auf dem Beipackzettel wird behauptet, er sei ein Ginkgo-Baum. Freunde haben ihn mir geschenkt mit den Worten: »Im Frühjahr blüht der.« Na klar, so sicher wie ich in drei Tagen von Größe 44 auf Größe 36 schrumpfe. Tot sieht es aus, das Holz im Topf. Ich habe zwei gelbe Daumen, ich gebe zu wenig oder zu viel Wasser, am liebsten keinen Dünger, weil ich nicht weiß, wie es geht. Und was in den Schatten muss, platziere ich in meiner Schusseligkeit ganz sicher auf der Sonnenseite des Balkons. Ich habe, obwohl guten Willens, noch jeder Topfpflanze das Grün-und-stark-Werden verleidet.
Den Ginkgo stelle ich ins zugige Treppenhaus, schenke ihm nicht weiter viel Beachtung. Er braucht wohl kein Wasser, denn sobald ich ihm welches geben will, zeigt er sich inkontinent. Kaum kommt es oben rein, rauscht es unten wieder raus.
Nicht mein Baum, wundert mich nicht.
Monate später, draußen liegt noch Schnee, der laut Kalender dort nicht mehr hingehört, erwacht der Ginkgo zum Leben, zeigt hellgrüne Triebe, die bei aller ihrer Zartheit sehr entschlossen wirken. Ich beschließe, mich zu kümmern. Berühre ihn kurz, wenn ich die Treppe zur Wohnung hinaufsteige, murmele etwas Freundliches und bitte ihn, das Wachsen und Grünwerden nicht einzustellen. Drei Monate nach seinem Einzug ins Treppenhaus hat er
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