Da hilft nur noch beten
in die Arme zu nehmen. Er war erschrocken, wie schlaff, kalt und leblos sie war, glaubte, eine Tote zu umfassen.
«Laß nur, es wird ja alles wieder werden…»
Plump kam er sich vor, kleiner, grauer Beamter, spießbürgerlich miefend, ohne Möglichkeiten, Situationen wie diese zu meistern. Wenn dies ein Film gewesen wäre, hätten die Männer ganz anders gewirkt: klüger, einfühlsamer, wortgewandter; nicht derart wie ein Psychotrampel.
Seine Phantasie lief ihm davon: Yemayá tot, und er bringt Jessi in die Brammer Klinik, besucht sie täglich, baut sie wieder auf und rettet sie, holt sie raus und lebt mit ihr, wird ihr väterlicher Freund und Manager…
Hinten auf dem Bord lag Lilos Brief, die Frau Reiseleiterin aus Fuerteventura auf TUI-Papier. «Lieber Jürgen, nun zögere ich wieder, meine geliebte Insel gegen Bramme zu tauschen, Sonne gegen Nebel, meine Freiheit gegen die Enge unserer Küche im Reihenhaus in Uppekamp… Kannst Du das verstehen…? Komm Du doch her, warum denn immer ich? Gib mir Zeit, versuche, Deine Entscheidungen noch einmal zu prüfen…»
War dieser Brief das endgültige Ende, und war Jessica ein neuer Anfang?
Ihre Erstarrung löste sich allmählich, sie preßte ihr Gesicht an seinen Körper, die Stirn an seine Halsschlagader, und er küßte ihre Haare, strich ihr sanft und in langen Bahnen über den Rücken. Seine Augen wurden feucht. Sie vertraute ihm, sie brauchte ihn, sie hatte keine Angst vor ihm. Wenn ich dir bloß helfen könnte. Du hilfst mir doch schon.
So saßen sie lange und sahen auch keinerlei Grund auseinanderzustieben, als Corzelius die Wohnung betrat.
«Das ist gut, daß du sie tröstest…»
«Noch immer nichts…?» fragte Mannhardt.
«Nein…» Corzelius warf seine abgewetzte Tasche auf den Boden, einen ledernen Ranzen aus der Schulzeit seines Vaters, Bramme 1927, von ihm selber umgerüstet und immer wieder neu geflickt. «Ich war in diesem fürchterlichen Matscho und hab mit Tatjana gesprochen, die kriegt doch überall was mit…»
«Und?»
«Diese Chantal kannte sie schon, aber als ich dann mit Grobi angefangen habe, da hat sie abgeblockt. Angeblich keine Ahnung. Dann hab ich leise angedeutet, daß du und Lilo, daß ihr gerne ‘n Kind adoptiert hättet, aber Angst habt vor der ganzen Prozedur… Daß die Behörden Bedenken haben könnten wegen deiner… Zeit in der Klinik. Ob sie da nicht ‘n Weg wüßte, auch so an ein Kind heranzukommen – das Geld dazu, das hättet ihr. Aber hat sie gar nicht drauf reagiert. Als dann noch nebenan ‘n Baby geschrien hat, bin ich fast versucht gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen.»
Jessica saß noch immer da wie ein autistisches Kind, völlig abgekapselt von der Welt, total mit sich allein.
«Jetzt beginnt die zweite Nacht…» sagte Mannhardt.
«Trotz allem: ich muß was essen…» Corzelius ging in die Küche hinaus und riß diverse Schränke auf. «Du, wo hast ‘n die Pfanne gelassen, ich will mir ‘n paar Spiegeleier machen…?»
«Die is noch in ‘er Spüle, die muß noch abgetrocknet werden.»
«Da is keine!»
«Wart mal, ich komm mal gucken…!» Mannhardt löste sich von Jessica, lief über den Flur und mühte sich mit Corzelius zusammen, die Pfanne zu finden.
Trotz Sommerzeit war es nun schummrig geworden, und um Jessica nicht in Dämmerlicht und Dunkelheit sitzen zu lassen, noch verlorener, hatte Mannhardt im Hinausgehen schnell die Deckenleuchte eingeschaltet, und unter ihren dreihundert Watt war Jessica, von ihm nicht mehr bemerkt, so zusammengezuckt, als wäre sie einem Elektroschock ausgesetzt worden. Und während die beiden Männer am anderen Ende der Wohnung, durch acht Meter Flur getrennt von ihr, lärmend ihre Utensilien suchten, saß sie zitternd da, wurde von Schüttelfrost und Krämpfen gepackt, konnte ihre Schmerzen nur ertragen, wenn sie aufsprang, sich bewegte. So schlimm diese Sekunden auch waren, es kehrte wieder Leben in ihren Körper zurück, ihre Stimmung schlug um, ihr Zustand wurde tendenziell wieder manisch, sie fühlte sich plötzlich von ungeahnten Kräften erfüllt.
Schon war sie an der Tür zum Flur und schrie den Männern zu, daß alles Scheiße sei, was sie beide bis jetzt gemacht hätten. «…Yemayá – keine Spur von ihr! Ihr beide könnt doch tausend Jahre suchen, ohne was zu finden. Macht mal endlich was Vernünftiges: der eine ruft die Bullen an, der andere alarmiert die Presse. Wenn morgen Bilder in ‘er Zeitung sind und die Abendschau was bringt, sucht ganz Berlin
Weitere Kostenlose Bücher