… da war'n es nur noch drei - Disconnected ; 1

uns Pizza zu holen. Als er gegangen ist, sitzen Liv und ich eine Weile lang da und schweigen uns unbeholfen an.
    „Ist das Jonathans Jacke?“
    Sie nickt und lässt ihre Finger über den Stoff gleiten. „Er hat sie bei mir vergessen. Eine Woche vor ...“
    Vor allem. Auch vor ihr und mir.
    „Liv, eigentlich würde ich mich gerne entschuldigen.“
    „Du hast keinen Grund, dich bei mir zu entschuldigen.“
    „Diese Statusmeldung war ziemlich bescheuert, das sehe ich ein. Aber es war nicht so gemeint.“
    „Das weiß ich doch. Und wie du selbst gesagt hast: Es war nicht allein deine Entscheidung.“
    „Also bereust du es vielleicht auch nicht mehr?“
    „Das weiß ich nicht. Aber es war ...“
    „Was?“
    „Es war schön, dass du für mich da warst, als ich dich gebraucht habe.“
    „Immer wieder gern.“
    Darauf antwortet sie nicht, und wahrscheinlich sollte ich auch nicht damit rechnen. Sie trägt immer noch Jonathans Jacke, und ich habe sie seit der Nacht, in der er verschwand, nicht mehr lächeln sehen.
    Nick kommt mit drei Pizzas zurück. Wir essen schweigend, und Liv kontrolliert alle fünf Minuten ihren Posteingang. Eine halbe Stunde später hat sie Erfolg, Ikarus hat eine Mail mit einer Videodatei im Anhang geschickt. Es dauert nur ein paar Sekunden, sie herunterzuladen, aber die fühlen sich ewig an.
    Wir drängen uns vor den Bildschirm.
    Es ist eine körnige Aufnahme, wahrscheinlich mit einem Handy gefilmt. Sie zeigt einen Bahnhof, den ich nicht erkenne, aber es sieht so aus, als wäre es irgendwo in Dänemark. Die Kamera bewegt sich langsam rauf und entfernt sich, wahrscheinlich stand der Kameramann auf einer Rolltreppe, die nach oben fährt, und hat dabei den Bahnsteig gefilmt.
    Elf Sekunden.
    So lange dauert es, bis die Rolltreppe mit dem Kameramann hochfährt, unter einem Dach verschwindet und die Aufnahme endet.
    „Das ist der Bahnhof in Aalborg“, sagt Nick heiser.
    „Wie hast du das denn erkannt?“
    „Diese Fußballfans ...“
    Wir sehen uns den Film noch einmal an. Auf dem Bahnsteig stehen ein paar Menschen in roten Trikots und singen.
    „Liverpool-Fans“, sagt Nick. „Sie haben vor drei Wochen gegen Aalborg gespielt.“
    „Bist du sicher?“, fragt Liv.
    „Todsicher. Das ist vor drei Wochen in Aalborg aufgenommen worden.“
    Wir sehen den Film ein drittes Mal. Und noch einmal. Erst beim vierten Durchgang entdeckt Liv etwas. „Guck mal, da! Neben der Litfaßsäule!“
    Neben einer Reklame für Zahnpasta steht ein großer Mensch in einer schwarzen Jacke. Mit einer Mütze auf dem Kopf und einer Sporttasche in der Hand. Er beobachtet die Liverpool-Fans. Bevor der Film endet, dreht er sich um und sieht in die Kamera.
    Liv stößt einen unterdrückten Schrei aus. „Das ist Jonathan!“
    Nick lässt das Video noch einmal laufen. „Nein, ist er nicht.“
    „Warum sollte Ikarus uns das sonst schicken?“
    „Um uns total verrückt zu machen, darum!“
    „Aber er ist es!“
    Wir sehen uns den Film zehn Mal an, ohne ein Wort zu wechseln. Der Typ auf dem Bahnsteig könnte Jonathan sein, aber er wurde aus einer so großen Entfernung gefilmt, dass sein Gesicht lediglich eine weiße, verschwommene Fläche ist, und er blickt nur eine Sekunde in die Kamera.
    Liv hält den Film an.
    Das Gesicht unter der Mütze ist Jonathan.
    Oder auch nicht.
    Ich würde mir nichts sehnlicher wünschen, als dass Jonathanauf diesem blöden Bahnsteig in Aalborg steht, aber ich weiß es einfach nicht.
    „Die Größe kommt hin“, flüstert Nick.
    „Wenn das Jonathan ist“, sage ich, „dann hat er vor drei Wochen noch gelebt.“
    Liv lächelt. „Und tut es immer noch.“

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    Titel der dänischen Originalausgabe:
    Genstart, Gennem nattens gader
    © 2009 Ina Bruhn und Høst & Søn/Rosinante&Co., København
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    © 2012, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
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    ISBN 978-3-440-13503-7
    Übersetzung: Ursel Allenstein
    Innenlayout: DOPPELPUNKT, Stuttgart
    eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig