Die Züge
S
o früh am Morgen war die Luft im Moor nicht mehr drückend, die ihre Bewegungen erschwert, ihre Kräfte aufgesaugt hatte. Jetzt schien eine warme Brise sie aufzuheben und davonzutragen: der Absorptionsprozeß war in sein Gegenteil umgeschlagen; ihr Kreislauf zog neue Antriebskraft aus den lauen Lüften. Ihre Gedanken drifteten in alle Richtungen auseinander, ziellos, aber voller Freude. Die Plakate der Eisenbahn fielen ihr ein. War das Ozon?
Nicht daß sie das geringste gegen die große Industriestadt gehabt hätte, die sie gerade verlassen hatten; anders als Mimi, die sie gehaßt hatte. Mimi hatte eigentlich gewollt, daß sie jeden Tag von Jugendherberge zu Jugendherberge wanderten, doch gegen diesen Vorschlag hatte sich Margaret erfolgreich zur Wehr gesetzt. Ihre Route führte durch die Pennines, und Margaret hatte darauf gedrängt, auf Bauernhöfen zu übernachten und, wenn es sich ergab, in gewöhnlichen Hotels. Mimi hatte eingewandt, daß erstere unzuverlässig und letztere ebenso trübselig wie teuer seien, doch mit einem Mal war ihr die Verteidigung der Jugendherbergen peinlich geworden, und sie hatte nachgegeben. »Aber Hotels schauen auf Wanderer herab«, hatte sie hinzugefügt. Margaret hatte sie beide bis dahin gar nicht als Wanderer betrachtet.
Bis auf ihre Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Stadt war soweit alles gutgegangen, vor allem, was das Wetter anging, als die zweite Woche ihrer Wanderschaft anbrach.
Margaret hatte die Stadt aufregend, interessant, unerwartet schön und romantisch gefunden. Ihre wohlproportionierten steinernen Mühlen und zahllosen Kamine aus Vulkangestein schienen vollkommen mit den hohen, freien Bergen überall im Hintergrund zu harmonieren. Für Mimi verkörperte der Ort all das, was sie in den Ferien vermeiden wollte. Wenn denn Städte unausweichlich waren, so würde sie das verschwommene Ineinander der Midlands und des Südens vorziehen, wo die Stadt nicht Widerpart des Landes ist, sondern mit diesem verschmilzt, wo Stadt und Land nirgendwo so scharf umrissen waren wie im Norden.
Margaret schien diese für sie neue Lebensweise (von der sie nur die oberste Schicht sah) weniger abschreckend, als sie erwartet hatte. Mimi, für die sie ebenfalls neu war, sah darin die Art Leben, aus dem aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Urgroßvater unter Entbehrungen aufgestiegen war, eine Erniedrigung, und es erschreckte sie, erkennen zu müssen, daß es immer noch existierte und sie verschlingen konnte. Wenn es schon Industrie geben muß, versteckt diese Tatsache in Vororten!
Das Free Trade Hotel (R.A.C. und A.A.) hatte Einzelzimmer für sie gehabt, und Mimi hatte jemanden vermißt, mit dem sie abends vor dem Einschlafen reden konnte.
Sie waren ganz plötzlich aus den wildesten Mooren zur Stadt hinabgestiegen, wie es im Norden häufig vorkommt. Jetzt schien es genauso plötzlich keine Städte mehr zu geben, sondern nur kleine Neandertaler mit langen Zähnen, die hinter Felsen versteckt darauflauerten, sie beide in Stücke zu reißen. Der Wind brauste in unberechenbaren Stößen unter dem klaren Himmel, der tiefblau war, aber von bauchigen Massen scharfumrissener Wolken durchzogen, die Festwagen in mediterranen Umzügen glichen. Die neblige, rauchige, stinkende Luft der Stadt hatte Margaret mit ihren ständig wechselnden atmosphärischen Wirkungen fortwährend verzaubert, ein meteorologisches Schauspiel, das nirgendwo sonst gegeben wurde, doch hier oben war die Luft zweifellos das Leben selbst.
Der Pfad über die Heide war schwer zu finden, die einzigen Orientierungspunkte bloße Umrisse, und keine von beiden war erfahren im Kartenlesen, doch sie kamen in seligem Schweigen voran, alle Barrieren zwischen ihnen waren niedergerissen, selbst Margarets schwerer Rucksack war vergessen. (Mimi bemerkte ihren eigenen Rucksack schon die ganze Zeit über gar nicht mehr.)
»Wenn das kein Zug ist«, sagte Margaret, nachdem sie zwei oder drei Stunden gewandert waren.
»O Gott«, sagte Mimi, die Eskapistin.
»Entscheidend ist, daß er uns Orientierungspunkte geben wird.« Das unbestimmte Rumpeln verlor sich jetzt im Geräusch des Windes. »Sehen wir nach!«
Mimi schnürte die Hintertasche von Margarets Rucksack auf und zog die Karte heraus. Die Karte zwischen ihnen, blieben sie stehen. Ihre Richtung wurde vom Wind bestimmt, und es ging über ihre Kräfte, verstandesmäßig gegenzusteuern. Dann breiteten sie die Karte auf dem Boden aus, das obere Ende mehr oder weniger nach
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