Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
Wyant besuchte, jenes von der Bildfläche verschwundene, geheimnisvolle Individuum, das in Mrs Manfords Kalender immer als «A» geführt und daher von ihren Kindern «Punkt A» genannt wurde. Das war ziemlich ärgerlich, denn auch Nona hatte vorgehabt, etwa um diese Zeit bei ihm vorbeizuschauen, und sie legte ihre Besuche immer so, dass sie nicht mit denen von Mrs Manford zusammenfielen; nicht weil diese Nonas Freundschaft mit Arthur Wyant missbilligte (sie fand es «wunderbar» von dem Mädchen, dass es ihm so viel Freundlichkeit entgegenbrachte), sondern weil Wyant und Nona der einhelligen Meinung waren, dass ihnen die Anwesenheit der früheren Mrs Wyant den Spaß verdarb. Aber daran ließ sich nun nichts ändern. Mrs Manfords Tagesplan war unumstößlich. Selbst Krankheit und Tod verursachten darin kaum einen leisen Wellenschlag. Man hätte genauso gut versuchen können, eine Pyramide mit einem Sonnenschirm zum Einsturz zu bringen, wie den Gedanken wagen, das eng gefügte Mosaik von Mrs Manfords Terminkalender durcheinanderzubringen. Nicht einmal Mrs Manford selbst hätte dies zuwege gebracht, beim besten Willen nicht, und wie Mrs Manfords Kinder und das ganze Haus wussten, war ihr Wille der beste.
    Nona Manford entfernte sich mit einem letzten Achselzucken. Sie hatte mit ihrer Mutter etwas ziemlich Wichtiges besprechen wollen; etwas Erschreckendes, das ihr am Abend zuvor der kurze Einblick in die seltsame, begrenzte, unreife Gedankenwelt ihrer Schwägerin Lita, der Frau ihres Halbbruders Jim Wyant, offenbart hatte – ebenjener Lita, mit der sie, Nona, die Nächte durchtanzte, wie Miss Bruss festgestellt hatte. Niemanden auf Erden liebte Nona so wie diesen sechs oder sieben Jahre älteren Jim, der für sie Bruder, Kamerad, Vormund, ja fast Vater gewesen war – denn ihr eigener Vater, der kluge, tüchtige, freundliche Dexter Manford, hatte fast immer in der Kanzlei zu tun oder wurde, wenn er zu Hause war, zu sehr von Mrs Manford in Anspruch genommen, um seiner Tochter viel Zeit widmen zu können.
    Jim, der Gute, hatte immer Zeit; genau darauf spielte seine Mutter zweifellos an, wenn sie ihn als Faulenzer bezeichnete – ein Faulenzer wie sein Vater, hatte sie einmal in einem ihrer seltenen Anfälle von Ungeduld hinzugefügt. Nichts machte Mrs Manford ungeduldiger als der Gedanke, jemand könne auch nur die kleinste Spanne uneingeteilter Zeit haben und diese nicht sofort verplanen. Wenn sie sie wenigstens ihr hätten geben können! Und Jim, der sie liebte und bewunderte (wie die ganze Familie), versuchte stets gewissenhaft, seine Tage zu füllen oder deren gelegentliche Leere vor ihr zu verbergen. Aber irgendwie schien er nie in Eile zu sein, und das kam der kleinen Nona zugute, die immer mit ihm rechnen konnte, sei es, dass er mit ihr ausfuhr oder spazieren ging, sich mit ihr in ein Konzert oder ein «Kintopp» stahl oder, noch schöner, einfach nur da war – müßig in der großen, ungenutzten Bibliothek des Landsitzes Cedarledge saß oder in seinem unaufgeräumten Arbeitszimmer im zweiten Stock des Stadthauses, bereit, Fragen zu beantworten, schwierige Wörter mit ihr im Wörterbuch nachzuschlagen, Golfschläger zu reparieren oder einen Dorn aus der Pfote ihres Sealyham Terriers zu ziehen. Jim hatte wunderbar geschickte Hände: Er konnte Uhren reparieren, mechanisches Spielzeug zum Laufen bringen, bezaubernde Modelle von Häusern oder Gärten bauen, konnte einen Druckverband anbringen, Rühreier zubereiten, die Gäste ihrer Mutter nachahmen – vorzugsweise die «ernsten», die sich in den vergoldeten Salons über «Probleme» oder «Anliegen» verbreiteten – und herrliche bunte Karten von Fantasiekontinenten zeichnen, zu denen Nona endlose Geschichten schrieb. All diese Begabungen hatte er bisher leider nicht besonders genutzt, außer dass er seine kleine Halbschwester damit entzückt hatte.
    Bei seinem Vater war es fast genauso gewesen, das wusste Nona. Der arme, unnütze «Punkt A»! Mrs Manford sagte, das liege am «alten New Yorker Blut» – sie sprach von den beiden mit einer Mischung aus Verachtung und Stolz, als handle es sich um die letzten Kapetinger 3 , erschöpft von tausend Jahren Regentschaft. Ihre eigenen roten Blutkörperchen waren etwas plebejischer getönt. Ihre Vorfahren hatten in Pennsylvania Kohle abgebaut und in Exploit 4 Fahrräder hergestellt; heute trug eines der meistverkauften Automobile in den Vereinigten Staaten ihren Namen. Aber auch an anderen Komponenten fehlte es nicht in

Weitere Kostenlose Bücher