Damals warst du still
zurückruderte und das Boot sorgfältig vertäute. Bevor er einschlief, überlegte er sich, was er der Polizei sagen würde, die bestimmt mit ihm reden wollte, denn in seiner Gegend verschwanden Menschen nicht einfach so. Nirgendwo verschwanden Menschen einfach so. Aber ihm würde schon etwas einfallen.
Und so war es auch. Die Polizei kam zwei Tage später, als seine Mutter in der Klinik war, und der Junge berichtete mit seinem ehrlichsten Gesicht, dass er an diesem Abend mit Renate Schluss gemacht habe, und dass sie weinend aus dem Haus gelaufen sei und dass er seitdem nichts mehr von ihr gehört habe. Er heuchelte Schuldbewusstsein und deutete die Sorge an, dass sie sich eventuell etwas angetan habe. Es gab eine Menge Aufruhr in dem kleinen Ort, und er stand auch kurze Zeit unter Verdacht, ohne dass man ihm etwas nachweisen konnte. Man erinnerte sich an die Frau, die man im Frühsommer tot aufgefunden hatte. Schließlich legte sich die Aufregung aber wieder. Renates Leiche wurde nicht gefunden, weil sich niemand große Mühe machte, danach zu suchen. Die Zeichen standen auf Umbruch, und jemand wie Renate, die nur eine schwer kranke Mutter hatte und sonst keine Verwandten, wurde nicht lange vermisst.
Acht Monate später war seine Mutter wieder verheiratet, und der Junge und sie trugen einen neuen Nachnamen (seine ältere Schwester war schon seit Jahren mit einem schweren Trinker und Prügler verheiratet, den sie gleichwohl nicht verließ). Nicht lange nach der Hochzeit beschlossen seine Mutter und ihr neuer Mann, Andreas Kleiber, im Westen, wo man viel besser verdiente als in diesem Kaff hier, ihr Glück zu versuchen. Natürlich ging der Junge mit, bevor man ihn erneut vernehmen konnte. In seiner Heimat hielt ihn nichts mehr außer den Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend voller Qual und rätselhafter Zwänge und Begierden. Vielleicht dachte er, an einem anderen Ort von vorne anfangen zu können. Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern.
Weil sich die Gelegenheit dazu ergab, besuchte ausgerechnet er in der neuen großen Stadt die Polizeischule, und das erwies sich als die richtige Entscheidung. Es ging ihm dort gut. Er suchte sich eine kleine Wohnung, ein Einzimmerappartement, und lernte fleißig für die unterschiedlichen Prüfungen. Er absolvierte den Streifendienst, studierte anschließend für den höheren Dienst, wurde als verdeckter Ermittler eingesetzt, lernte David kennen, fühlte sich wohl in dieser Gemeinschaft junger Männer, die keine Gefühle von ihm verlangten, die er nicht geben konnte, sondern nur Mut und Trinkfestigkeit. Beides besaß er. Dass er mit Ende zwanzig immer noch keine Freundin hatte, wusste niemand, nicht einmal David. Alles entwickelte sich positiv. Selbst mit seiner Mutter, die er häufig besuchte, kam er besser aus als je. Seine Mutter hatte eine Stelle als Ärztin in einem Krankenhaus gefunden, ihr neuer Mann arbeitete als Büroleiter in einer Spedition.
Über zehn lange Jahre war sein Leben in Ordnung.
Dann verließ Kleiber, das Schwein, seine Mutter wegen einer Jüngeren. Seine Mutter verlor ihre Arbeit und begann erneut zu trinken, und diesmal gab es keinen rigiden Tagesablauf, der sie daran hinderte, schon morgens die erste Flasche Wodka zu leeren. Das Geld wurde knapp. Sie wandte sich erst an seine Großmutter, dann an seinen Onkel. Beide wiesen sie ab. Stattdessen musste Janosch, wie er sich mittlerweile nannte, um auch auf diese Weise einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen, herhalten, sich ihr betrunkenes Weinen anhören, ihr kleines Haus mit dem verwahrlosten Garten an der Peripherie aufräumen und sauber halten, ihre Sachen waschen, Erbrochenes aufwischen, sie ins Bett bringen, wenn sie nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen.
Eines Nachts sah er seinen Onkel – derselbe, der nichts von seiner eigenen Familie wissen wollte – im Fernsehen über Familien dozieren und deren seltsame Verknüpfungen, über verschlüsselte Aufträge und geheimnisvolle Barrieren und Ängste. In derselben Nacht träumte Janosch zum ersten Mal nach Jahren wieder von einer toten Frau, ihrem weißen jungfräulichen Bauch und einem Messer in seiner Hand, das lebendig wurde. Der Traum kam zu einem Zeitpunkt, der nicht hätte ungünstiger sein können: Er war erfolgreich, genoss den Respekt seiner Kollegen und die Zuneigung seines Partners. Er hatte plötzlich eine Menge zu verlieren. Aber die Träume, die ihn nun wieder Nacht für Nacht heimsuchten, scherte das nicht. Sie
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