Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
einen Freiwilligen«). Er scheute vor nichts zurück. Einmal zog er sich einen Stuhl heran und las aus dem Kinderbuch Yertle the Turtle von Dr. Seuss vor. Einmal sang er »Those Were the Days«. Ein anderes Mal brachte er einen Kürbis und ein Stück Holz mit und stach auf beides mit einem Messer ein, um zu verdeutlichen, dass Dinge, die schnell wachsen, nicht selten schneller zerstört werden können als jene, die langsam wachsen.
Wenn ihm der Sinn danach stand, spickte er seine Predigt mit Zitaten aus Newsweek oder Time , der Saturday Evening Post, den Peanuts, den Werken von Shakespeare oder der Fernsehserie Matlock . Er sang auf Englisch, Hebräisch, Italienisch oder mit übertriebenem irischem Akzent Popsongs, Folksongs oder traditionelle Lieder. Durch die Predigten des Rebbe lernte ich mehr über die Macht der Sprache als aus jedem Buch. Wenn man sich während der Predigt in der Gemeinde umschaute, sah man niemanden, der nicht aufmerksam zuhörte; die Leute lauschten ihm sogar wie gebannt. Erst wenn die Predigt zu Ende war, wagte man wieder richtig zu atmen – so fesselnd war der Rebbe.
Deshalb fragte ich mich, ob er seinen Beruf wohl aufgrund einer göttlichen Eingebung gewählt hatte. Ich dachte an Moses und den brennenden Dornbusch; an Elia und das stille, sanfte Sausen; an Balaam und den Esel; an Hiob und den Wettersturm. Wenn man das Wort Gottes predigen wollte, dachte ich mir, musste man auch eine Offenbarung gehabt haben.
»So ist es aber nicht immer«, sagte der Rebbe.
Was hat Sie dann zu Ihrem Beruf geführt?
»Ich wollte Lehrer werden.«
Religionslehrer?
»Nein, Geschichtslehrer.«
An einer ganz normalen Schule?
»An einer ganz normalen Schule.«
Aber Sie sind aufs Rabbinerseminar gegangen.
»Ich habe es versucht, ja.«
Nur versucht?
»Beim ersten Mal bin ich gescheitert.«
Das ist nicht Ihr Ernst!
»Doch. Der Leiter des Seminars, Louis Finkelstein, nahm mich beiseite und sagte zu mir: ›Al, Sie verfügen zwar über ein großes Wissen, doch wir haben den Eindruck, dass Ihnen das fehlt, was einen guten und hilfreichen Rabbiner ausmacht.«
Was haben Sie dann getan?
»Was konnte ich schon tun? Ich bin gegangen.«
Das brachte mich ziemlich aus dem Tritt. Man konnte allerhand sagen über Albert Lewis, aber gewiss nicht, dass ihm die notwendigen Eigenschaften fehlten, um ein guter Rabbiner zu sein. Das war geradezu absurd. Vielleicht fanden ihn die Seminarleiter damals zu sanft. Oder zu schüchtern.
Dieses Scheitern machte ihm jedenfalls furchtbar zu schaffen.
Er nahm einen Ferienjob als Betreuer in einem Kindercamp in Port Jervis im Bundesstaat New York an. Einer der Jungen verhielt sich außergewöhnlich: Wenn die Kinder sich an einer Stelle versammelten, ging dieser Junge woandershin. Wenn sich alle setzen sollten, blieb er trotzig stehen. Der Junge hieß Phineas, und Albert Lewis verbrachte den größten Teil des Sommers damit, diesen Jungen zu ermutigen, sich mit ihm über dessen Probleme zu unterhalten, ihn geduldig anzulächeln.
Mit den Ängsten Jugendlicher war Albert Lewis vertraut. Er selbst war ein pummeliger Junge aus einer streng religiösen Familie gewesen, der wenige Freunde gehabt und sich nie mit Mädchen getroffen hatte.
Phineas hatte also in seinem Betreuer einen verständnisvollen Zuhörer gefunden. Und als der Sommer zu Ende ging, hatte der Junge sich sehr verändert.
Einige Wochen später bekam Al einen Anruf von Phineas’ Vater, der ihn zum Essen einladen wollte. Es stellte sich heraus, dass dieser Mann Max Kadushin war, ein berühmter jüdischer Gelehrter und führender Kopf des konservativen Judentums.
Beim gemeinsamen Essen sagte er: »Al, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Sie haben mir ein völlig anderes Kind wiedergegeben. Einen Jungen, der zu einem jungen Mann geworden ist.«
Al lächelte.
»Sie können offenbar sehr gut mit Menschen umgehen – vor allem mit Kindern.«
Al bedankte sich für das Kompliment.
»Haben Sie jemals überlegt, ob Sie nicht aufs Rabbinerseminar gehen wollen?«
Al verschluckte sich beinahe.
»Ich habe es schon versucht«, antwortete er dann. »Es hat nicht geklappt.«
Max überlegte einen Moment.
»Versuchen Sie’s noch mal«, sagte er.
Und mit Kadushins Hilfe verlief Albert Lewis’ zweiter Anlauf mit dem Rabbinerseminar erfolgreicher als der erste. Er brachte hervorragende Leistungen. Er wurde berufen.
Kurz darauf stieg er in einen Bus nach New Jersey, um dort seinen Platz in jener Synagoge
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