Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
nicht«, trällerte der Rebbe. »Kein Eis … wär fein … aber nein …«
Auf dem Weg zu seinem Büro kamen wir an einem großen Foto von ihm vorbei, auf dem er als junger Mann in strahlendem Sonnenlicht auf einem Berg stand. Er wirkte groß und stark, und seine schwarzen Haare waren nach hinten gekämmt – so hatte ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung.
Schönes Foto, sagte ich.
»Das war ein großartiger Moment.«
Wo ist das?
»Auf dem Berg Sinai.«
Wo Moses die Zehn Gebote erhielt?
»Ganz genau.«
Wann ist das Foto entstanden?
»In den Sechzigern, als ich mit einer Gruppe Schüler dorthin fuhr. Ein Christ und ich haben den Berg bestiegen, und dieser Mann hat auch das Foto gemacht.«
Wie lange hat der Aufstieg gedauert?
»Stunden. Wir waren die ganze Nacht unterwegs. Aber wir waren rechtzeitig zum Sonnenaufgang oben.«
Ich warf einen Seitenblick auf den Rebbe. Heute würde er eine solche Exkursion nicht mehr bewältigen: Seine schmalen Schultern waren nun gebeugt, und die Haut an seinen Handgelenken war faltig und schlaff.
Bevor wir weitergingen zum Büro, fiel mir noch etwas an dem Foto auf. Der Rebbe trug auf dem Bild den Gebetsschal, und an Kopf und Arm hatte er die Tefillin befestigt, kleine Kästchen, in denen Bibeltexte enthalten sind. Sie werden von frommen Juden zum Morgengebet angelegt.
Der Rebbe hatte gesagt, er sei die ganze Nacht unterwegs gewesen.
Das bedeutete, dass er die Tefillin mitgenommen hatte.
Solche Rituale spielten eine wichtige Rolle im Leben des Rebbe. Morgengebete. Abendgebete. Bestimmte Lebensmittel zu sich nehmen, sich andere versagen. Am Schabbat ging er bei jedem Wetter zu Fuß zur Synagoge, statt mit dem Auto zu fahren, wie es die religiösen Gebote vorschreiben. Er achtete die Feiertagstraditionen; an Pessach lud er zum Sederabend Gäste ein, und an Rosch Haschana warf er Brotstücke in einen Fluss. (Mit dieser Handlung wirft man symbolisch seine Sünden fort).
Wie der Katholizismus mit seiner Vesper, den Sakramenten und der Kommunion oder der Islam mit dem Salah, das fünfmal am Tag gesprochen wird, den reinen Kleidern und Gebetsmatten, kennt auch das Judentum viele Rituale, mit denen man tagtäglich und das ganze Jahr über zu tun hat.
Ich erinnere mich noch, wie der Rebbe die Gemeinde – manchmal milde, manchmal aber auch alles andere als milde – rügte, wenn Rituale vernachlässigt wurden; wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt Kerzen nicht angezündet und Gebete nicht gesprochen wurden oder man es unterließ, am Todestag das Kaddisch für seine Toten zu sprechen.
Doch obwohl er seine Schar so sorgfältig mahnte, wurden die Mitglieder der Gemeinde von Jahr zu Jahr nachlässiger. Sie ließen hier mal ein Gebet aus, übergingen dort einen Feiertag. Und sie heirateten Angehörige anderer Religionen – wie ich auch.
Ich fragte den Rebbe, wie wichtig diese Rituale ihm heute noch waren, da er sich dem Ende seiner Tage näherte.
»Lebenswichtig«, sagte er.
Aber wieso? In Ihrem tiefsten Inneren wissen Sie doch genau, woran Sie glauben.
»Mitch«, sagte er, »beim Glauben geht es darum zu handeln. Wer man als Mensch ist, zeigt sich im Handeln, nicht nur im reinen Glauben.«
Der Rebbe hielt seine Rituale nicht nur streng ein, er richtete vielmehr seinen Tagesablauf nach ihnen aus. Wenn er nicht betete, studierte er heilige Schriften – ein sehr wichtiger Bestandteil seines Glaubens –, war in der Seelsorge tätig oder besuchte die Kranken. Sein Leben war auf diese Weise stark von vorhersehbaren Elementen bestimmt – und nach amerikanischen Maßstäben vielleicht sogar ein wenig langweilig. Wir werden schließlich ständig dazu angehalten, die »alten Muster« über Bord zu werfen. Man erwartet, dass wir unentwegt Neues ausprobieren. Der Rebbe hatte für Neues wenig übrig. Moden interessierten ihn gar nicht. Er machte nicht Pilates, er spielte nicht Golf (jemand hatte ihm einmal einen Golfschläger geschenkt; der stand dann jahrelang in der Garage).
Doch sein frommes Leben, das er nach seinen festen Regeln gestaltete, strahlte eine besondere Ruhe aus: bestimmte Uhrzeiten waren mit bestimmten Handlungen verknüpft; in jedem Herbst baute er eine Sukkah – eine Laubhütte –, durch deren Dach noch das Licht der Sterne dringen konnte; jede Woche feierte er den Schabbat, und so war die Woche in sechs Tage und einen unterteilt, jahraus, jahrein.
»Meine Großeltern haben das so gemacht und meine Eltern auch. Wenn ich nun diese Tradition nicht mehr bewahre
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