Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
den langen Weg zur Estrade an, wo mich der Rebbe im Talar erwartet.
Er blickt mich durch seine Brillengläser an und bedeutet mir, dass ich mich setzen soll. Der Stuhl kommt mir riesig vor. Ich sehe das Gebetbuch des Rebbe, das mit Zeitungsartikeln förmlich gespickt ist. Es kommt mir vor, als wäre ich im persönlichen Studierzimmer des Rebbe gelandet. Er beginnt jetzt laut zu singen, und ich singe so laut wie möglich mit – damit er mich nicht für nachlässig hält –, bin dabei aber ziemlich zittrig. Damit ist der obligatorische Teil meiner Bar Mizwa beendet, aber jetzt kommt der viel schwierigere Teil: das Gespräch mit dem Rabbiner. Dafür kann man nicht lernen, denn es wird frei gestaltet. Und am allerschlimmsten finde ich, dass ich direkt neben dem Rebbe stehen muss. Ich kann nicht mehr vor Gott weglaufen.
Als das Gebet beendet ist, ruft er mich zu sich. Ich kann immer noch kaum über das Rednerpult blicken, und einige Leute verrenken sich den Hals, um mich sehen zu können.
»Und, wie ist dir nun zumute, junger Mann?«, fragt der Rebbe. »Bist du erleichtert?«
Ja, murmle ich.
Von unten höre ich leises Lachen.
»Als wir uns vor einigen Wochen unterhalten haben, habe ich dich gefragt, was du über deine Eltern denkst, erinnerst du dich?«
Ja, schon, antworte ich.
Wieder Lachen.
»Ich habe dich gefragt, ob du sie perfekt findest oder ob du glaubst, dass sie sich verbessern sollten. Und weißt du noch, was du gesagt hast?«
Ich erstarre.
»Du hast gesagt, sie seien nicht perfekt, aber …«
Er nickt mir zu, damit ich weiterspreche.
… aber sie müssten sich auch nicht verbessern?, sage ich.
»Ganz recht«, erwidert der Rebbe. »Das ist sehr klug von dir. Weißt du auch, warum?«
Nein, antworte ich.
Gelächter von unten.
»Weil es bedeutet, dass du bereit bist, Menschen so anzunehmen, wie sie sind. Niemand ist perfekt. Nicht mal Mama und Papa. Und das ist auch vollkommen in Ordnung so.«
Der Rebbe lächelt und legt mir beide Hände auf den Kopf. Dann spricht er einen Segen. »Möge der Ewige seine Gegenwart über dir scheinen lassen …«
Nun bin ich gesegnet, und der Ewige scheint über mir. Und ich frage mich, ob das nun bedeutet, dass ich von jetzt ab mehr Freiheiten habe oder weniger.
Henrys Leben
A ls ich von meiner Religion als Mann anerkannt wurde, entwickelte sich Henry, der ungefähr so alt war wie ich, zum Kriminellen.
Mit Autodiebstahl fing er an. Er stand Schmiere, während sein älterer Bruder die Schlösser knackte. Dann setzte Henry seine kriminelle Laufbahn mit Handtaschenraub und Ladendiebstahl fort, vorzugsweise in Lebensmittelgeschäften; er stahl Schweinekoteletts und Würste, indem er sie in seinen weiten Hosen und Hemden versteckte.
Die Schule brach er ab. Während andere Jungen seines Alters zu Footballspielen und Tanzbällen gingen, beging Henry bewaffnete Raubüberfälle. Ob die Opfer jung oder alt, weiß oder schwarz waren, interessierte ihn nicht. Er hielt ihnen eine Pistole vors Gesicht und verlangte ihr Geld, ihre Brieftaschen, ihren Schmuck.
Im Laufe der Jahre machte er sich auch Feinde auf der Straße. 1976 im Herbst versuchte ein Konkurrent aus seiner Gegend, Henry einen Mord anzuhängen. Später behauptete er allerdings, es sei doch jemand anders gewesen.
Aber als die Polizei auftauchte, um Henry zu verhören – der inzwischen neunzehn war –, dachte er sich, er könne den Spieß umdrehen und die Belohnung von 5000 Dollar einstreichen.
Er sagte also nicht »ich habe keine Ahnung« oder »ich habe nichts damit zu tun«, sondern erfand haufenweise Lügen. Er tat so, als habe er sich am Tatort als Augenzeuge aufgehalten – und hielt sich dabei für ganz besonders schlau.
Dümmer hätte er sich kaum anstellen können. Seine Lügen beförderten nämlich ihn und einen anderen Typen mit einer Mordanklage auf direktem Wege in den Knast. Der andere Typ wurde verurteilt und landete für fünfundzwanzig Jahre hinter Gittern. Henrys Anwalt riet ihm, sich schuldig zu bekennen. Dafür gab es nur sieben Jahre.
Henry war am Boden zerstört. Sieben Jahre Knast für eine Tat, die er nicht begangen hatte?
»Was soll ich tun?«, fragte er seine Mutter.
»Sieben ist weniger als fünfundzwanzig«, antwortete sie.
Henry verkniff sich die Tränen und ließ sich darauf ein. Er wurde in Handschellen aus dem Gerichtssaal abgeführt.
Im Polizeiauto zum Gefängnis fluchte Henry, weil er zu Unrecht verurteilt worden war. Er rechnete sich nicht aus, wie viel schlimmer
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